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Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden

Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden

Titel: Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden
Autoren: Claire Seeber
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haben die Schleusentore geöffnet. Und sind in der steigenden Flut untergegangen.
    Eine leere Dose Strongbow Cider kullert zwischen meinen Füßen herum. Ich lasse sie rollen, aber dann nervt es mich, dass sie immer und immer wieder an meinen Absatz stößt. Ich hebe sie auf und stecke sie in das Netz an der Rückenlehne des vorderen Sitzes. Ich muss mich zwingen, mir nicht die Finger abzulecken. Stattdessen wische ich sie am Bezug des Sitzes neben mir ab. Ich wünschte nur, ich hätte in einem Anfall weiser Voraussicht Schmerzmittel eingesteckt, bevor ich losfuhr. Ich wünschte, ich hätte einen Schluck Wein hier, meinen iPod, ein Kochbuch - irgendetwas, womit ich mich jetzt ablenken könnte. Ich wünschte, ich wäre auf meiner Fahrt nicht allein. Ich wünschte, ich hätte vorhergesehen, dass es so sein würde.
    Meine Augenlider sinken schwer herab, mein Kopf schlägt gegen die kühle Scheibe.
    »Autsch!« Ich fahre auf und komme mir dumm vor. Ich zwinge mich, gerade zu sitzen. Ich will hier nicht schlafen. Ich will mich hier, unter lauter Fremden, nicht meinen unvermeidlichen Albträumen aussetzen. Also betrachte ich die kleine Frau auf der anderen Seite des Mittelganges, ein mausgraues, zwergenartiges Geschöpf, das gerade mit wahrer Leidenschaft die Worte von Northanger Abbey verschlingt. Jane Austen bewegt sie offenkundig. Seltsam, dass ihre bleichen Lippen dabei steif bleiben. Ich wünschte, ich hätte dieses Buch noch nicht gelesen, sodass ich das Vergnügen seiner Entdeckung noch vor mir hätte. Das Paar im Sitz vor ihr kuschelt sich aneinander, die Köpfe berühren sich, ihr Haar scheint sich ineinander zu verfangen, während er ihr etwas zuflüstert, das nur sie hören soll.
    »Nie wieder werde ich die Freude verspüren, etwas zum ersten Mal zu erleben«, hämmert es in meinem Kopf. »Niemand wird mir je wieder etwas zuflüstern wollen.« Fast muss ich lächeln über mein Selbstmitleid. Aber eben nur fast.
    Schließlich gebe ich nach und lasse mich in den Schlaf sinken, begleitet vom Wiegenlied flüsternder Stimmen, die durch den schwach erleuchteten Bus murmeln. Das dunkelhaarige Mädchen, das durch den Gang kommt, um die enge Toilette aufzusuchen, fällt mir nicht auf. Doch das Mädchen wird schwören, dass sie mich an meinem Platz gesehen hat - sie wird sagen, dass ihr mein Haar auffiel. (Das ist allerdings kaum zu übersehen.) Sie meinte, sie hätte sofort gewusst, dass ich eine Seelenverwandte sei. An den großen Mann hingegen, dem die Tasche aus der Hand fällt, während er an mir vorbeigeht, kann ich mich erinnern. Er holte mich bedauerlicherweise ins Wachsein zurück. Verwirrt und erschrocken blicke ich auf. Einen Augenblick lang setzt mein Herzschlag aus. Ich denke, ich sehe Alex. Der Schmerz in meinem Herzen flammt wieder auf. Mein Magen krampft sich zusammen.
    Ich sehe dem Mann nicht in die Augen, obwohl er etwas sagen will. Ich kann ihn einfach nicht anschauen. Er könnte ja erkennen, was ich verbergen will, also drehe ich mich erneut zum Fenster. Unwillkürlich habe ich die Fäuste geballt und die Nägel tief in meine Handflächen gegraben. Ich umfasse meinen Haarschopf und drehe ihn nervös zu einem Strang zusammen. Sogar in der halbdunklen Scheibe leuchtet er rot. Das ist die Flamme, der ich nicht entkommen kann und …
    Dann sehe ich etwas auf der anderen Seite des Fensters. Draußen im Dunkel. Entsetzt halte ich den Atem an.
    Was ich sehe, ist Angst. Reine, unverfälschte Angst. Das Gesicht, das mich durch die Scheiben anstarrt, ist vor Angst verzerrt. Riesige Augen, so weit aufgerissen, dass man fast nur das Weiße sieht. Ein lebendig gewordener Alptraum. Die Nüstern blähen sich vor Panik, die Zähne sind zu einer Horrorfratze gebleckt, die Mähne flattert im Wind. Eine Sekunde der alten Zeit lang, denn diese Zeit wird bald zu der »Zeit davor« werden, zu der Zeit der Sicherheit, eine Sekunde lang bin ich frei von Angst. Instinktiv treibt es mich, die Hand auszustrecken, um die zitternden Flanken mit einem Streicheln zu beruhigen, das ausbrechende Tier zu besänftigen. Dann aber erfasst mich die ganze Wucht der Angst, und ich fühle mich sehr klein. Bestimmt schlagen die fliegenden Hufe des Pferdes Löcher in die Seiten des Busses. Panisch drücke ich mich in den Sitz und mache mich auf den Aufprall gefasst.
    Der Moment, in dem ich meiner Stimme noch mächtig war und einen Warnruf hätte ausstoßen können, ist längst vorüber. Das Wiegenlied hat sich zum Schrei gewandelt. Die
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