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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt
Autoren: Lincoln Child
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verbracht und Proben des glazialen Sediments gesammelt. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen wieder an die Umgebung gewöhnt hatten. Die Stimme, die ihn angesprochen hatte, war die von Sully, und jetzt konnte Marshall ihn auch erkennen: eine breite, leicht korpulente Gestalt in einem fellbesetzten Parka, die mit verschränkten Armen dreißig Meter weiter oben in dem steilen Tal stand. Hinter ihm erhob sich die Endzunge des Fear-Gletschers, ein sattes, mysteriöses Blau, durchzogen von zahlreichen weißen Bruchlinien. Große Eisbrocken lagen verstreut entlang der Basis wie monströse Diamanten, zusammen mit messerscharfen Splittern alter Lava. Marshall öffnete den Mund, um Sully zu warnen: Der Gletscher war genauso gefährlich wie schön, es war wärmer geworden, und die Eisfront kalbte mit ungeheurer Geschwindigkeit. Gewaltige Brocken lösten sich und stürzten herab, um alles unter sich zu begraben. Doch dann überlegte er es sich anders. Gerard Sully war stolz auf seine Position als nomineller Leiter der Expedition und mochte es überhaupt nicht, wenn ihm jemand sagte, was er tun sollte und was nicht. Also schüttelte Marshall nur den Kopf. «Ich denke, ich verzichte, danke.»
    «Wie Sie meinen.» Sully wandte sich an Wright Faraday, den Evolutionsbiologen der Gruppe, der ein wenig weiter denHang hinunter vor sich hin arbeitete. «Wie steht’s mit Ihnen, Wright?»
    Faraday blickte auf, und seine wässrigblauen Augen wirkten unheimlich vergrößert hinter der Schildpattbrille. Er trug eine Digitalkamera an einem breiten Trageriemen um den Hals. «Nein danke», sagte er stirnrunzelnd, als wäre der bloße Gedanke, mitten während der Arbeit eine Essenspause einzulegen, eine unerhörte Häresie.
    «Verhungert meinetwegen, wenn ihr es so wollt. Verlangt bloß nicht von mir, irgendetwas wieder mit zurückzunehmen.»
    «Nicht mal einen Eiszapfen?», fragte Marshall.
    Sully lächelte dünn. Er war ungefähr so klein wie Napoleon und eine Kombination aus Egoismus und Unsicherheit, die Marshall als ganz besonders ärgerlich empfand. An der Universität, wo Sully nur einer von vielen arroganten Wissenschaftlern war, hatte Marshall ihn noch ertragen, doch hier draußen auf dem Eis – ohne jede Fluchtmöglichkeit – war er absolut lästig geworden. Vielleicht, sinnierte er, vielleicht war es ja doch eine Erleichterung, dass ihre Expedition nur noch wenige Wochen dauern sollte.
    «Sie sehen müde aus», stellte Sully fest. «Waren Sie gestern Nacht wieder unterwegs?»
    Marshall nickte.
    «Passen Sie lieber auf. Sie könnten in eine Lavaröhre fallen und erfrieren.»
    «Schon gut, Mutter. Ich werde vorsichtig sein, versprochen.»
    «Oder Sie laufen einem Polarbären über den Weg oder sonst irgendwas.»
    «Kein Problem – ich sehne mich geradezu nach geistreicher Konversation.»
    «Das ist kein Witz! Wenn Sie sich wenigstens nicht weigern würden, eine Pistole zu tragen!»
    Marshall gefiel die Richtung nicht, die ihre Unterhaltung nahm. «Hören Sie, wenn Sie Ang begegnen, sagen Sie ihm, ich habe ein paar Proben fertig für den Transport ins Labor.»
    «Mache ich. Wahrscheinlich ist er ganz außer sich vor Aufregung.»
    Marshall sah dem Klimaforscher hinterher, wie er vorsichtig den Hang hinunter in Richtung der Basis am Fuß des Hügels kletterte. Er nannte sie «ihre» Basis, doch in Wirklichkeit gehörte sie natürlich der Regierung der Vereinigten Staaten und hieß offiziell «Mount Fear Remote Sensing Installation». Sie war vor beinahe fünfzig Jahren in Betrieb genommen worden und bestand im Wesentlichen aus einem niedrigen, grauen, institutionell aussehenden Gebäude, auf dem es von Radarkuppeln und anderen Überbleibseln des Kalten Krieges nur so wimmelte. Hinter dem Camp lag eine eisige Landschaft aus Permafrost und Lavaablagerungen, die der Berg vor Ewigkeiten aus seinen Eingeweiden gespien hatte, von Gräben durchzogen und aufgebrochen, als hätte die Erde sich selbst in geologischer Agonie zerrissen. An vielen Stellen war die Oberfläche unter ausgedehnten Schneefeldern verborgen. Es gab keine Straßen, keine anderen Gebäude, keine Lebewesen. Die Umgebung war so feindselig, so abgelegen und so fremdartig wie der Mond.
    Marshall streckte sich und ließ den Blick über die unwirkliche Landschaft schweifen. Selbst nach vier Wochen vor Ort fiel es ihm noch schwer, zu glauben, dass eine Gegend so karg und öde sein konnte. Andererseits hatte die ganze Expedition von Anfang an etwas Unwirkliches gehabt.
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