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Norderney-Bunker

Norderney-Bunker

Titel: Norderney-Bunker
Autoren: Manfred Reuter
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Restaurants und Kneipen erwachte nur langsam wieder das Leben.
    In der Straße Am Damenpfad war um exakt 7.12 Uhr der 81-jährige Rentner Karl-Heinz Buchholz aus Ennepetal mit seinem dreijährigen Border-Collie-Rüden Micky unterwegs, als dieser in Höhe des Hotels Meeresburg unvermittelt stehen blieb. „Wat is?“, fragte Buchholz. „Dat machst du doch sonst nit.“
    Nun zog der Hund wie entfesselt an der Leine, und während der Rentner sein Bestes gab, die Lage in den Griff zu bekommen, zerrte das Tier solange, bis es sich losgerissen hatte. Kläffend rannte der Hund auf die andere Straßenseite und passierte die Einmündung zur Kirchstraße. Während er kurz dahinter für ein paar Sekunden stoppte, um – zumindest schien es so – sich nach seinem mittlerweile vollkommen aufgebrachten Herrchen umzusehen, wäre dieses beim Überqueren der Fahrbahn um ein Haar gestrauchelt. Nur mit Mühe und Not konnte Buchholz den drohenden Sturz auffangen, nicht jedoch ohne sich dabei und vor Schmerz wie ein Hund laut aufjaulend die Hüfte zu zerren.
    Doch Kalle Buchholz gab nicht auf. Entschlossen stemmte er die rechte Pranke in die Hüfte und lief weiter – wenn auch dramatisch humpelnd – hinter Micky her, der in einem kleinen Durchgang zwischen dem Hotel Am Damenpfad und dem Haus Seeblick verschwunden war. Dort angekommen, hechelte Buchholz nur noch. Er war längst hochrot angelaufen, und das Herz pochte bis zum Hals. Den Geruch liebevoll aufgebackener Brötchen und frisch aufgebrühten Kaffees für die Hotelgäste nahm er gar nicht mehr wahr. Schweißperlen rannen Stirn und Wangen hinunter, als er die rot verschmierte Hauswand endlich realisierte, dann die Blutspritzer auf den Bodenplatten des Bürgersteigs und schließlich die Lache, in der der Kopf des Mannes mit den langen schwarzen Haaren und dem blauen Stirnband mit den gelben Karos ruhte. Dann überkam ihn Übelkeit. Eigentlich wollte er schreien, doch erstens fehlte ihm dazu der Atem, und zweitens wollte er nicht, dass die Hotelgäste aufwachten. Immerhin: So weit konnte er noch denken.
    Micky hatte sich mittlerweile ein wenig beruhigt. Er saß bei Fuß und hechelte nur noch nervös, aber scheinbar zufrieden. Dann schaute er Buchholz mit treuen Augen von unten herauf an, als wolle er ihn fragen, was denn nun zu tun sei. Unter plötzlich eintretendem, ohrenbetäubenden Möwengeschrei griff Kalle schließlich nach der am Boden liegenden Hundeleine, was ihm seinerseits einen infernalischen Schmerzensschrei abverlangte, und zerrte Micky vom Tatort weg. Gleich nebenan klopfte er ans Fenster der Hotel-Rezeption. Anna, die Rezeptionistin, war gerade dabei, den Computer hochfahren zu lassen. Sie kannte Buchholz schon seit vielen Jahren. Bevor sich der Ex-Unternehmer aus NRW auf Norderney eine Zweitwohnung angeschafft und für die knapp 70 Quadratmeter mal eben gut eine halbe Million Euro aus dem Ärmel geschüttelt hatte, war er zusammen mit seiner Frau viele Jahre lang Gast im Hotel Seeblick gewesen. Mehrfach im Jahr hatte er in Zimmer 18 logiert, von wo aus die beiden den herrlichen Blick auf die Nordsee genossen, egal zu welcher Jahreszeit. Natürlich hatte Anna sofort bemerkt, dass mit Herrn Buchholz irgendetwas nicht stimmte.
    „Was ist los, Herr Buchholz? Kommen Sie doch rein und setzen Sie sich einen Moment.“
    Als die junge Frau sah, dass Buchholz sich die Hüfte hielt und das rechte Bein nachzog, fragte sie: „Mein Gott. Sind Sie gestürzt?“
    „Junge Frau, dat is alles halb so wild“, stieß Kalle hervor und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Dann stöhnte er: „Rufen Se schnell die Polizei. Da drüben liegt ein toter Indianer.“
    Es dauerte nur wenige Minuten, dann rissen die Martinshörner fast aller auf Norderney stationierten Rettungsorganisationen Gäste und Bewohner jäh aus dem Schlaf. Als Erste am Tatort waren Oberkommissar Gent Visser und sein Kollege Neumann. Visser hatte die arg eng anliegende Lederjacke geöffnet, damit er vor der Leiche – ohne den Reißverschluss zu sprengen – in die
Hocke gehen und dieser den Zeigefinger an die Halsschlagader legen konnte.
    Dabei hielt er für einige Sekunden die Luft an, fixierte mit geübtem Blick über den Rand seiner Hornbrille einen Blutfleck an der Biotonne und stellte zur Überraschung aller inzwischen umstehenden Brötchentütenhalter fest: „Der Tote lebt noch. Wo bleibt der Notarzt?“
    Neumann gelang es nur sporadisch, die Gaffer zu verjagen. „Das Beobachten dieses Einsatzes ist im
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