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Norderney-Bunker

Norderney-Bunker

Titel: Norderney-Bunker
Autoren: Manfred Reuter
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Ohren, im Nacken stießen sie gegen den weißen Hemdkragen. Rieken. Ja, klar. Rieken. Den kannte Winnetou schon lange. Sie hatten zwar noch nie ein Wort gewechselt, aber Winnetou wusste, dass Rieken einer der Top-Verkäufer bei Silomon war, der längst zum Inventar des Hauses gehörte. Ihm und Winnetou gemein war nicht nur das lange Haar, sondern auch die Liebe zu sanft-rockiger Musik. Und selbstverständlich wusste Rieken, mit wem er es da zu tun hatte, wenngleich er das große Geschäft nicht witterte.
    Rieken hatte die Verunsicherung in Winnetous Blick natürlich auf der Stelle erkannt und ging auf ihn zu.
    „Was kann ich für Sie tun? Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er.
    Winnetou lief rot an. „Ich denke schon.“
    „Also bitte, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
    Winnetou fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Nervös nestelte er mit der rechten Hand in der Hosentasche seiner Jeans. Rieken beobachtete ihn und behielt gleichzeitig die Lage auf seiner Verkaufsfläche fest im Blick.
    „Hier“, sagte Winnetou dann und reichte Rieken zitternd das Los. „Das habe ich gewonnen.“
    Auch Rieken brauchte nun ein paar Sekunden, um die Sache zu verifizieren. Dann sagte er: „Herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich für Sie. Kommen Sie. Ich begleite sie zur Geschäftsführung.“
     
    Nun ging alles blitzschnell. Bereits am übernächsten Tag saß Winnetou um 8.45 Uhr auf der Fähre nach Norderney. Kempowski hatte sich extra freigenommen und ihn zur Mole nach Norddeich gefahren, wo am Schalter der Reederei ein Ticket für seinen Freund bereitlag. Im Café am Pier kaufte Kempowski ihm noch die lokalen Zeitungen des Tages und brachte ihn zur Brücke, über die Paul-Karl May mit einem kleinen Rollkoffer die Frisia IV betrat. Im hinteren Bereich des Salons nahm er Platz, zwischen einem Trupp Handwerker, einigen gut gekleideten Herren, die über Bauplänen brüteten, und einer Gruppe bereits in Feierlaune befindlichen Damen mit Ruhrpott-Slang, die lautstark eine Flasche Prosecco orderten und sich über schlüpfrige Dinge unterhielten. Winnetou befand sich auf einem Schlag in einer anderen Welt. Überhaupt. Wenn er in den Spiegel schaute, erkannte er sich fast selbst nicht mehr. Denn beim Sponsor hatte man sich mehr als nur großzügig gezeigt. Da nicht nur Rieken, sondern auch die Geschäftsführung Winnetous Musik schätzten, ihn ohnehin sympathisch fanden und sie ihm den Gewinn gönnten, kleideten sie ihn kurzerhand komplett neu ein, schickten ihn nebenan zum Friseur (allerdings wurden nur die Spitzen geschnitten!) und schenkten ihm obendrein einen Gutschein von Douglas im Wert von 100 Euro. Als die Reporter der Ostfriesen Zeitung , der Ostfriesischen Nachrichten und des Heimatblatts anrückten, hatte Winnetou nicht mehr gewusst, wo ihm der Kopf stand.
    Zwischen der Modehaus-Geschäftsführung und dem komplett angetretenen Vorstand des Kaufmännischen Vereins hatte er Aufstellung nehmen müssen. Das Blitzlichtgewitter ließ er dann ungerührt über sich ergehen und beantwortete geduldig – und durchaus auch ein wenig stolz – die Fragen der Lokaljournalisten.
    Auf der Fähre, auf der ein vor ihm sitzender Insel-Reporter gerade krachend seinen Laptop zuschlug, weil die Kiste ihm zum wiederholten Mal abgeschmiert war, und sich schräg gegenüber zwei der Damen aus dem Ruhrpott bereits einer näheren Leibesvisitation durch schwarz-gelb-gekleidete Clubtouristen hingaben, ließ Winnetou die Schlagzeilen auf sich wirken. Während es das Heimatblatt am moderatesten angehen ließ („Straßenmusikant gewinnt Hauptpreis“), titelten die Ostfriesischen Nachrichten auf Seite eins:

    „Winnetou auf dem Weg nach Norderney – der Apache erobert nun auch die Insel“.

     

Die Blutspur vom Damenpfad
    Vorsichtig, scheinbar noch vorsichtiger als üblich, blinzelte die Sonne in den Tag. Feiner Dunst lag über den Häusern, sogar über denen der Zweitwohnungsbesitzer. Der städtische Teil am Westkopf 1 der Insel wachte an diesem leisen Morgen nur sehr zögerlich auf. Auf den vom Winter übrig gebliebenen Baustellen sammelten sich allmählich die Handwerker, während die ersten Jogger über die Promenade schnauften und am Hafen gerade die Frisia V anlegte, in die in Kürze die Norderneyer Gymnasiasten und Berufsschüler einsteigen würden. Zwei Zeitungsboten standen vor der Redaktion der Norderneyer Badezeitung an der Wilhelmstraße und rauchten eine Zigarette, und auch in den Personalhäusern der Hotels,
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