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Norderney-Bunker

Norderney-Bunker

Titel: Norderney-Bunker
Autoren: Manfred Reuter
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durch die verträumt lauschenden Zuhörer nach vorn und hielt nun selbst für ein paar Sekunden inne. Dann griff er mit seinen langen, blassen, nahezu weißen Fingern in die zerbeulte Hosentasche und zog ein ganz offensichtlich bereits benutztes Papiertaschentuch heraus, das er aber schnell wieder verschwinden ließ. Auf seiner zitternden Handfläche verblieben neben ein paar Geldmünzen, zwei Fünf-Euro-Scheinen und einem USB-Stick fünf Lose, die man ihm kurz zuvor an einem Werbestand des Kaufmännischen Vereins angedreht hatte. Lübbert richtete den Blick auf seine mobile Habe. Dabei sah man ihm an, dass er scharf nachdachte, während Winnetou gerade die Textstelle in Donovans Ballade vom Soldaten sang, in der er verzweifelt einen Ausweg aus dem Wahnsinn des Krieges suchte. Auch Lübbert schien verzweifelt, zumindest stark zweifelnd. Dann entschloss er sich endlich. Während er Winnetou für gewöhnlich mit einem freundlichen Gruß abspeiste, zeigte er sich heute äußerst gönnerhaft. Mit den Fingerspitzen pickte er eines der fünf noch ungeöffneten Lose von der Hand und ließ es in Winnetous Gitarrenkasten schweben.
    Am Abend hatte Winnetou allein mit Kempowski an dem kleinen Besuchertisch im Flur des Kempinski gesessen, um – wie er immer sagte – den Börsenabschluss des Tages, den Manitu-Dax, bekannt zu geben. 77,22 Euro nach knapp drei Stunden, damit war er überaus zufrieden. Bevor er nachsah, was sich hinter dem Los verbarg, drehte er sich eine Zigarette und nahm noch einen Schluck Kaffee.
    „Los, mach auf!“, drängte Kempowski, der ernsthaft neugierig zu sein schien und einen geradezu aufgeregten Eindruck hinterließ.
    Winnetou hielt die Zigarette im Mundwinkel und summte durch die Nase irgendeine Melodie, als er den perforierten Rand abzureißen begann. „Er lässt sich aufreizend viel Zeit dafür“, dachte Kempowski und schüttelte den Kopf. Winnetou schien das Spiel Spaß zu machen. Er grinste und schnaufte seitlich über die qualmende Zigarette hinweg Richtung Kempowski. Als ihm eine Rauchschwade direkt ins Auge zog, er es zukniff und es trotzdem zu tränen begann, legte er das erst zur Hälfte geöffnete Los zur Seite, die Kippe in den Aschenbecher und putzte sich die Nase. Erst, als er sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen gewischt und das Stirnband gerichtet hatte, nahm er das Los wieder zur Hand und öffnete es derart ungestüm, dass das Papier nur so zischte. Was folgte, war Schweigen. Winnetou stellte das Atmen ein. Er las. Dann las er noch mal. Und noch mal. Dabei öffnete er den Mund immer weiter. Kempowski wurde nun – was man so von ihm eigentlich nicht kannte – ein wenig ungehalten.
    „Mensch, Häuptling. Wenn du mir jetzt nicht auf der Stelle sagst, was auf dem vermaledeiten Losabschnitt geschrieben steht, dann kannst du diese Nacht sonst wo pennen.“
    Dann reichte Winnetou Kempowski das Los. Auch der öffnete nun den Mund und wechselte die Farbe: Hauptgewinn. Eine Woche Inselhotel König , Norderney. Sponsored by Silomon .
    Mit Kempowski hatte er die ganze Sache durchgesprochen. In allen Einzelheiten. Fast die ganze Nacht war dabei draufgegangen und jede Menge Bier die Kehlen hinuntergeflossen. Die ersten beiden Stunden hatte er sich noch standhaft geweigert, den Preis anzunehmen, doch dann gab er nach. Bald. Ja, bald würde der große Tag für Winnetou kommen. Tatsächlich, er hatte den Hauptpreis gewonnen. Nicht zu fassen. Womit nur hatte er das verdient? Aber: Warum sollte er sich das nicht gönnen?
    Zu viel Bescheidenheit macht auch nicht glücklich, dachte Winnetou, als er am anderen Tag ins Modehaus an der Auricher Burgstraße lief.
    Es war ihm etwas mulmig, irgendwie verspürte er Druck im Magen und er wusste nicht, ob es vom Alkohol kam oder von der Aufregung. Dabei hatte er am Morgen noch rasch im Kempinski geduscht, die Haare gründlich gewaschen und das von Kempowski geschmierte Butterbrot mit daumendick aufgeschmierter Leberwurst gegessen. Jedenfalls gestand er sich ein nicht unerhebliches Maß an Nervosität ein, als er – unweit seines Arbeitsplatzes, den er für gewöhnlich um diese Zeit längst schon eingenommen hatte – das Modehaus betrat. Da er sich im Parterre zwischen den Kollektionen für Damen und jüngere Semester nicht so besonders behaglich fühlte, nahm er die Rolltreppe hinauf in die erste Etage.
    Zwischen feinen Anzügen, Gürteln, Hemden und Sommerjacken stand ein gepflegter Herr in braunem Zweireiher. Seine Haare bedeckten die
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