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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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Entscheidung. Nach Ablauf der Frist sollte ich zu dem in den Wagen steigen, mit dem ich verreisen wollte.
    Ich bin bei keinem der beiden eingestiegen. Die Folge war: Meine Mutter dachte, ich wäre mit meinem Vater in Urlaub gefahren, und umgekehrt. Beleidigt sind beide abgezischt. Aber ich wette, kaum hatten sie auf der Überholspur auf 190 die Stunde beschleunigt, war ich auch schon aus ihrem Kopf verschwunden.
    Ich meine, so ein Urlaub ganz allein ist ja auch nicht zu verachten, und vielleicht sind sie insgeheim sogar froh, dass ich mich für den anderen entschieden habe. Urlaub mit Kindern soll für Erwachsene die reinste Hölle sein, habe ich mal irgendwo gelesen.
    „Und wo sollte es hingehen?“, fragt Mel.
    „Holland oder Österreich“, lüge ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich will nicht, dass Mel mich für einen Snob hält, wenn ich ihr von den Luxushotels in Indonesien und Florida erzähle. Von dem Porsche und dem Geländewagen habe ich ihr auch nichts gesagt. In der Version, die ich Mel erzählt habe, fahren mein Vater und meine Mutter zwei gebrauchte Schrottkarren, in denen sie nur mit viel Glück und noch mehr Werkzeug ihre Urlaubsziele erreichen. Mel wirkt nicht so, als halte sie viel von Schickimicki-Typen. Eigentlich könnte es mir ja völlig egal sein, was Mel von mir denkt.
    Eigentlich aber auch nicht.
    Mein toller Plan, der meiner Familie dreimal Solo-Ferien beschert, hat nämlich einen Haken. Es sind sogar zwei. Ich habe nicht daran gedacht, wie ich von dieser blöden Raststätte wieder wegkomme. Normalerweise würde ich mir einfach ein Taxi bestellen, aber das ist der zweite Haken: Mein Portmonee steckt in meiner Jacke und meine Jacke liegt auf der Rückbank des Porsches, wo ich sie vor rund eineinhalb Stunden beim Aussteigen glatt vergessen habe.
    Ich habe nur meinen Schlüssel, aber keinen einzigen Cent in der Tasche. Das ist kein gutes Gefühl. Ich bin es nicht gewohnt, kein Geld zu haben.
    „Und wohin jetzt?“, fragt Mel, für die es völlig klar zu sein scheint, dass wir uns zusammen auf den Weg machen.
    „Ich kenne da eine Villa, die steht gerade leer. Da könnten wir hin.“ Ich versuche, möglichst cool zu klingen. So als ob ich ständig in leere Villen einsteigen würde. Dabei will ich einfach nur nach Hause, und wenn es mir nebenbei gelingt, Mel ein bisschen zu beeindrucken, ist das auch nicht schlecht.
    „Woher kennst du denn eine Villa? Ist deine Mutter da Putze?“
    Jetzt muss mir schnell was einfallen. Ganz schnell.
    „Nein, mein Vater ist Klempner.“
    Mel sagt nichts, sondern guckt mich nur an. Misstrauisch irgendwie.
    „Der kümmert sich um verstopfte Klos und so“, fahre ich fort und muss grinsen, weil ich mir meinen Vater vorstelle, wie er in seinem teuren Anzug vor einer Kloschüssel hockt, in der die braune Brühe schon über den Rand schwappt. „Der hat da gestern einen Rohrbruch repariert. Das war ganz dringend, weil die Leute heute in Urlaub gefahren sind“, lüge ich weiter, obwohl es eigentlich gar nicht gelogen ist. Zumindest nicht das mit dem Urlaub.
    „Warum fahren wir nicht zu dir nach Hause?“, fragt Mel.
    „Und warum nicht zu dir?“, erwidere ich.
    „Was soll ich da? Kenn ich doch schon.“
    „Geht mir ähnlich.“
    Das war die richtige Antwort, denn Mel fragt nicht mehr weiter. Sie schiebt den Plastikstuhl vom Tisch weg, schultert ihren Rucksack und steht auf.
    „Was hast du vor?“, frage ich.
    „Eine Mitfahrgelegenheit organisieren. Was sonst?“
    Schnell springe ich auf und laufe ihr mit meinem Rollkoffer hinterher. Im Vorbeigehen schnappe ich mir von einem der Tische einen eingepackten Zuckerwürfel, den jemand neben seiner leeren Kaffeetasse hat liegen lassen. Ich sammle die Dinger und zu Hause habe ich Hunderte davon. Aus der ganzen Welt.
    Wegen der kurzen Verzögerung hole ich Mel erst ein, als sie bereits draußen vor der Tür steht und sich suchend auf dem Parkplatz umsieht.
    „Solltest du nicht wissen, in welche Richtung wir müssen?“, frage ich.
    Mel geht zwischen den parkenden Wagen auf einen Mann zu, der neben einem dicken Mercedes steht und in sein Smartphone quatscht. „Nö.“
    „Und wenn der in die falsche Richtung fährt?“
    „Mach dir mal nicht in die Hose. Ich sorg schon dafür, dass er genau dahin fährt, wo wir hinwollen.“
    Ich kann nichts mehr erwidern, weil wir den Mann erreicht haben. Er sieht aus wie ein Geschäftsreisender und für einen Moment habe ich Angst, dass er meinen Vater kennt und vielleicht mal
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