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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter
Autoren: Waris Dirie
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einmal zuschlagen konnte, entwand ich mich seinem Griff und rannte zurück zu der Herde. Auf dem Grund des
tuug
war es schon dunkel, und in dem schwindenden Licht konnte ich nichts mehr unterscheiden. Spitze Steine bohrten sich mir in die Fußsohlen, und die Dornen der
galol
-Büsche rissen mir die Haut auf. Baby, eine der Ziegen, meckerte. Wir nannten sie Baby, weil sie immer so viel Lärm machte. Alter Mann ging im
tuug
entlang, und die Ziegen folgten ihm gehorsam. Ich war so froh, sein silbriges Haar in der Dunkelheit zu sehen, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Mein Arm kam mir gebrochen vor, und ich wusste, mein Vater würde mich bei meiner Rückkehr wieder schlagen. Viel lieber hätte ich die Hände meiner Mutter auf meinem Gesicht gespürt. Warum war ein Kamel wichtiger als eine Tochter?
    Vor fast zwanzig Jahren, als ich alt genug war, um verheiratet zu werden, lief ich vor meinem Vater und dem harten Leben in Somalia davon, aber die westliche Welt erwies sich dann in vieler Hinsicht als noch härter. Die Ohrfeige eines Vaters war immer noch besser als die Einsamkeit, die ich im modernen Westen vorfand. Allein in einem Hotelzimmer in Amerika oder England, das voller Teufel war, sehnte ich mich nach einer menschlichen Berührung – ja sogar nach einem Schlag eines geliebten Menschen. Meine Augen brannten und waren geschwollen vom Weinen, ich kam mir verloren vor; mein Leben hatte keine Richtung mehr. In Somalia ist die Familie alles, Beziehungen gelten als genauso lebenswichtig wie Wasser und Milch. Die schlimmste Beleidigung lautete: »Mögen Gazellen in deinem Haus spielen!« Das heißt, dass deine Familie dich verlassen soll. Gazellen sind scheu und würden sich einem bewohnten Haus nie nähern. Für uns Somalis ist Einsamkeit schlimmer als der Tod.
    Meine Beziehung zu meinem Verlobten Dana klappte auch nicht, und ich wusste nicht, wie es meiner Familie ging. Einmal traf ich einen Somali und fragte ihn über Somalia aus, weil ich meine Mutter finden wollte. Seine Augen waren so leblos, als ob das Licht aus seinem Herzen gewichen sei. Er sagte: »Vergiss Somalia! Es existiert nicht mehr.« Ebenso gut hätte er mir mitteilen können, meine Mutter sei tot. Wenn es Somalia nicht mehr gibt, was bin ich dann? Meine Sprache ist einzigartig, unsere Kultur und Gebräuche sind einzigartig, selbst unser Aussehen ist es. Wie konnte ein Land einfach verschwinden wie Wasser aus einem
tuug
?
    Jetzt schrieben wir das Jahr 2000, neunzehn Jahre waren vergangen, seit ich von zu Hause fortgelaufen war. Mein Land war von Krieg und Hunger zerrissen, und ich wusste nicht, was mit meiner Familie geschehen war.
    Ich war nach Los Angeles eingeladen, um einen Vortrag über die Genitalverstümmelung an Frauen zu halten, und hatte eingewilligt – obwohl es mir schwer fiel, darüber zu sprechen. Ich war Sonderbotschafterin der UNO zum Thema Beschneidung, aber sobald ich darüber sprach, brachte es schmerzliche Erinnerungen mit sich. Ich hatte meine Mutter damals sogar um die Beschneidung gebeten, weil alle behaupteten, es würde mich sauber und rein machen. Ich war noch nicht viel größer als eine Ziege, als meine Mutter mich festhielt, während eine alte Frau meine Klitoris und die inneren Schamlippen abschnitt und die Wunde zunähte. Sie ließ nur eine winzige Öffnung für Urin und Menstruationsblut. Zu dieser Zeit hatte ich keine Ahnung, was passieren würde, weil wir niemals darüber redeten. Das Thema ist tabu. Meine schöne Schwester Halimo starb daran; niemand aus meiner Familie erwähnte es jemals, aber ich weiß ganz genau, dass sie entweder verblutet oder an einer Infektion gestorben ist. Die
midgaan
-Frauen, die die Beschneidung vornehmen, verwenden eine Rasierklinge oder ein an einem Stein gewetztes Messer. Die
midgaan
sind Unberührbare in der somalischen Gesellschaft, weil sie von einem Stamm kommen, der nicht vom Propheten Mohammed abstammt. Sie tragen danach eine Myrrhensalbe auf, um die Blutung zu stoppen, aber wenn etwas schief läuft, haben wir kein Penicillin. Später dann, wenn ein Mädchen heiratet, versucht der Bräutigam in der Hochzeitsnacht die kleine Öffnung gewaltsam zu vergrößern. Falls die Öffnung zu schmal ist, trennt man sie mit einem Messer auf. Erst nach Jahren des Kampfes wurde mir klar, dass es eine echte Verstümmelung ist. Aber ich hatte immer noch Angst, darüber zu sprechen – ich fürchtete, mir würde etwas Schlimmes passieren, wenn ich das Schweigen bräche.
    Es war
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