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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter
Autoren: Waris Dirie
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in unsere runde Hütte. Sie baute sie selbst mit den langen Wurzeln des
galol
-Baums. Die biegsamen Wurzeln grub sie aus und bog sie zu einer Kuppel. Darüber kamen die Matten, die sie aus Gräsern wob. Meine Mutter war diejenige, die die ganze Arbeit in der Familie erledigte. Sie kochte das Essen, nährte die Säuglinge, baute das Haus, wob die Matten, auf denen wir schliefen, und fertigte Körbe und Holzlöffel an. Sie war die Köchin, die Baumeisterin, die Ärztin und meine einzige Lehrerin. Meine Mutter sagte nichts zu dem toten Kamelfohlen, sie fuhr einfach in ihrem Tagwerk fort. »Gott helfe uns, dass die Ziegen heute Morgen Milch geben«, sagte sie. Das tat sie jeden Tag, wenn wir die Ziegen und die Kamele molken. Meine Mutter konnte gut mit Tieren umgehen – sie blieben ganz ruhig stehen, wenn sie sie berührte. Ich musste immer den Kopf des Tieres zwischen meine Beine in mein Kleid stecken und mich über seinen Rücken beugen, damit es nicht austrat oder in den Eimer schiss, wenn ich versuchte, es zu melken. Aber alle Tiere liebten es, neben ihr zu stehen und ihre seidigen Zitzen von ihr berühren zu lassen. Mutter war immer zu Scherzen aufgelegt und sang bei der Arbeit.
    Whitey hatte an diesem Morgen die meiste Milch gegeben, und Mutter teilte sie für uns auf. Sie blickte meinem Vater direkt in die Augen, was sie selten tat, und als sie ihm ihre Schüssel Milch reichte, hielt sie seine Hände einen Moment lang fest. Mein Papa war so stark, dass er unsere größte Ziege hochheben konnte. Er war ein Darod. Die Darod sind der größte und stärkste Stamm in ganz Somalia. Mit Spitznamen heißen die Darod
La'Bah
, Löwen. Er war größer als jeder andere Mann, den ich kannte, und seine Augen waren so scharf, dass er schon von weitem eine weibliche Gazelle von einer männlichen unterscheiden konnte. Ich ahnte, dass er gut aussah, denn die Frauen gaben sich immer große Mühe, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
    Der Fremde führte das Kamel in unser Lager. Leider konnte ich ja die Ziegen nicht allein lassen; aber ich wollte schrecklich gerne wissen, was mit dem Griesgram und seinem merkwürdigen Kamel los war. Plötzlich sah ich Alter Mann am anderen Ufer des
tuug
entlangschlendern. Er sammelte Holz.
    »Komm her,
calli
«, rief ich ihm zu und winkte. Warum sammelte er wohl jetzt Brennholz?
    »Was ist los?«, schrie ich.
    »Mutter will ein größeres Feuer«, erklärte er. »Ein Vetter hat ein krankes Kamel gebracht, damit sie es wieder gesund macht.« Alter Mann hatte ein süßes Gesicht unter seinen verblüffenden weißen Haaren, und mit seinen runden, weihrauchfarbenen Augen sah er aus wie meine Mutter, die immer die Schönste in unserer Familie gewesen war. Allerdings durfte man das nie sagen; sobald man es aussprach, würde ihm etwas Schlimmes zustoßen.
    »Alter Mann«, schrie ich. »Komm her, du darfst auf die Ziegen aufpassen! Ich muss zu Mama.« Mein Bruder zögerte, aber er wollte schon längst alt genug sein, um auf die Ziegen aufpassen zu können. Bevor Jungen die angesehenste Aufgabe übernehmen, die Kamele zu hüten, kümmern sie sich um die Ziegen und Schafe. Normalerweise ließ ich ihn nicht in ihre Nähe und behauptete, er würde ihnen Angst einjagen. Aber heute wollte ich unbedingt wissen, was los war, und riskierte es sogar, verprügelt zu werden – falls Alter Mann eine der Ziegen verlor.
    Damit niemand merkte, dass ich die Ziegen im Stich gelassen hatte, schlich ich vorsichtig auf unsere Hütte zu. Es kümmerte sich jedoch keiner um ein weiteres mageres Kind, das herumlief. Ich roch den Rauch des Feuers und den Duft von Tee. Meine ältere Schwester schenkte ihn gerade in eins von unseren zwei Gläsern. Sie hielt die Kanne hoch und goss den Tee in einem langen, dünnen Strahl ein, damit der heiße, würzige Duft in die Luft stieg. Dann servierte sie das Getränk meinem Vater und dem Fremden. Sie sah ihnen dabei nicht ins Gesicht, sondern blickte wie eine richtige Frau zu Boden. Ich fragte mich, warum nicht Mama den beiden Männern den Tee servierte.
    Das trächtige Kamel stand neben unserer Hütte und begann schon wieder zu zucken und zu zittern. Es hatte einen richtigen Anfall! Meine Mutter hockte daneben in dem langen Nachmittagsschatten, den unsere Hütte warf, und beobachtete es. Sie verfolgte jede Bewegung so aufmerksam, als wolle sie das Kamel kaufen. Sein Fell war hellbraun, wie eine Löwenmähne, und es hatte einen ganz dicken Bauch. Das Fell wies Risse auf, und die Knie waren blutig
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