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Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Titel: Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
Autoren: Eric T. Hansen
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der Vorsichtigste das dringende Bedürfnis verspürt, sich in den Trubel zu stürzen, endlich das eigene Ding durchzuziehen und zu gucken, ob die anderen New Yorker, diese Leute, die allesamt vom Lockruf des Möglichen angetrieben werden, einen mit Applaus oder Hohn belohnen werden.
    Noch auf dem Rückflug nach Deutschland ist man zappelig und voller Energie, man will zu Hause die alten Träume umsetzen, was auf die Beine stellen, kann nicht erwarten, endlich damit anzufangen. Dann die Landung, in Berlin, in München, in Hamburg, Frankfurt am Main. Man steigt aus, hört die Durchsagen im Flughafen, macht ein paar Schritte durch die geschäftigen Straßen, atmet ein – und weg ist es. Es ist einem vorher noch nie aufgefallen, aber hier ist alles anders. Irgendwie …, sagen wir bedächtiger. Hier gehen die Leute sparsam mit ihrer Energie um. Sie halten sich zurück und behalten ihre Gedanken für sich, sie gucken ernst, sie sprechen nicht miteinander, keiner wartet auf neue Ideen, im Gegenteil, man will damit in Ruhe gelassen werden. Statt Aufregung liegt etwas anderes in der Luft. Das ist der Nebel des Nörgelns.
    »Das kenne ich«, sagte Elisabete Köninger aus Stuttgart am Telefon. Köninger ist Brasilianerin, Übersetzerin, Dolmetscherin, Nörgelkennerin und lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, spricht mittlerweile mit einem schwäbischen Akzent, und als wir miteinander telefonierten, musste sie immer wieder lachen. »Ich besuche Brasilien, dann fliege ich nach Deutschland zurück, und ich komme mit viel Energie an, aber plötzlich ist die Energie weg. Diesmal war ich länger in Brasilien und habe es deutlich gemerkt. Dort herrscht Aufbruchsstimmung. Die Leute haben das Gefühl, die Finanzkrise sei schon vorbei. Man schaut auf das neue Jahr mit der Zuversicht, dass gute Dinge auf uns zukommen. Hier ist es genau umkehrt. Hier habe ich den Eindruck, wenn man was Neues anfangen will, sagt jeder: ›Ja, aber in dieser Zeit? Überleg dir das lieber zweimal.‹«
    Dora Bravin ist ebenfalls Brasilianerin, mit einem deutschen Mann verheiratet und lebt in Berlin. Als sie hörte, dass ich mehr über den Nebel des Nörgelns wissen wollte, wurde sie ganz aufgeregt und meinte, wir müssten uns auf einen Wein in ihrem Stamm-Restaurant Archimboldo treffen.
    »Es war immer mein Traum, eine Sambaschule zu eröffnen«, erzählte sie. »Und als ich es dann tatsächlich tat, sagte mein Mann: ›Du hast zu wenig Schüler und musst auch noch arbeiten, wie willst du das schaffen?‹ Als er dann sah, dass es funktionierte, war er dabei. Vorher war es ›meine‹ Schule, nachher war es ›unsere‹. Auch als ich beschlossen habe, mich als Pflegerin selbständig zu machen, meinte er, ›das schaffst du nicht‹. Anfangs war es auch schwer, aber nur wegen des Papierkrams. Es gibt sehr viel Papierkram in Deutschland. Jetzt bin ich seit 2004 selbständige Pflegerin. Und trotzdem. Wann immer ich etwas Neues machen will, sagt mein Mann: ›Was bringt dir das?‹. Und ich antworte: ›Eine neue Erfahrung.‹«
    Man muss kein Ausländer sein, um den Nebel des Nörgelns wahrzunehmen. Der Filmemacher und Journalist Tim H. erzählte von einem gewissen Wilfried Merle, über den er einen Dokumentarfilm gedreht hatte. »Das war ein wirklich interessanter Typ«, erinnerte sich Tim. »Anfang der Sechziger ging er als Entwicklungshelfer nach Venezuela und hat in den Slums gearbeitet. In dieser Zeit sind zwei seiner Kinder an simplen Kinderkrankheiten gestorben – an Krankheiten, die in Deutschland ganz leicht geheilt worden wären. Da hat er sich mit seiner Frau hingesetzt und gesagt, das geht nicht. Das können wir unserer Familie – sie hatten noch drei Kinder – nicht antun. Sie kamen nach Deutschland zurück und übernahmen von den Schwiegereltern eine Weinkneipe. Aber er hatte schon fast zwanzig Jahre in einer anderen Kultur gelebt, und er konnte dieses ständige Nörgeln nicht aushalten. Eines Tages hat irgendein zehnjähriges, völlig verfettetes Kind sich beschwert, dass die Nudeln nicht durch waren. Da ist ihm der Kragen geplatzt. ›Das hier ist auch nicht der richtige Platz für meine Kinder‹, sagte er, und ist zurückgegangen und hat die venezolanische Staatsbürgerschaft angenommen.«
    Warum ist Deutschland so reichlich mit dem Nebel des Nörgelns beschenkt worden?
    Ich rief einige Freunde und Bekannte an, alles Ausländer, die schon länger hier leben und eine Vergleichsmöglichkeit hatten,
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