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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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neben der Treppe. Während ich ihr hineinhalf, sagte sie, als fiele es ihr gerade ein: »Könnte ich unter Umständen heute das Auto haben?« Seit ich drei Jahre zuvor meinen Führerschein gemacht hatte, teilten wir uns einen blauen Toyota. Lila war diejenige, die jeden Monat unseren Benutzungsplan aufstellte, und in diesem Monat hatte sie mir den Mittwoch zugeteilt.
    »An sich schon, aber ich muss bis vier Uhr in der Bibliothek arbeiten und habe um halb fünf einen Zahnarzttermin am anderen Ende der Stadt. Das schaffe ich nie mit dem Bus.«
    »Ist auch nicht so wichtig«, sagte sie.
    Bevor sie durch die Tür ging, verabschiedete ich sie noch mit unserem traditionellen Pfadfindergruß. Zwei, vielleicht drei Sekunden lang hörte ich die vertrauten Geräusche der Außenwelt in unser stilles Haus eindringen - ein vorbeifahrendes
Auto, ein Kind, das mit seinem Skateboard den steilen Bürgersteig hinunterrollte, ein paar Takte Musik aus einem offenen Fenster gegenüber. Dann fiel die Haustür leise hinter ihr ins Schloss und sie war weg. Wann immer ich mir in den folgenden Monaten diesen Augenblick ins Gedächtnis rief, hatte ich das Gefühl, dass das klickende Geräusch nicht das Türschloss gewesen war, sondern etwas in meinem eigenen Kopf, ein kaum vernehmbares übersinnliches Geräusch. Dann redete ich mir ein, wenn ich nur zugehört, wenn ich nur aufgepasst hätte, dann hätte ich den Verlauf der Geschichte irgendwie verändern können.
    An jenem Abend richtete ich meinen Eltern aus, was Lila gesagt hatte, und wir alle gingen zur gewohnten Zeit ins Bett. Als ich am nächsten Morgen nach unten kam, stand meine Mutter an die Arbeitsfläche gelehnt, aß Cornflakes und studierte einen juristischen Schriftsatz. Mein Vater saß mit der Zeitung am Tisch und strich Butter auf einen Toast. »Geh deine Schwester wecken, Ellie«, bat meine Mutter. »Ich kann nicht fassen, dass sie noch nicht auf ist. Sie hat um neun Uhr ein Seminar.«
    Ich ging nach oben und klopfte an Lilas Zimmer, aber sie reagierte nicht. Also machte ich die Tür auf und sah, dass ihr Bett unbenutzt war, die weißen Kissen und die Tagesdecke ordentlich und glatt. Unser kleines gemeinsames Bad lag direkt neben meinem Zimmer, und Lila hörte immer den Sender KLIV im Radio, wenn sie sich morgens fertig machte. Sie hätte sich unmöglich duschen und anziehen können, ohne dass ich sie gehört hätte.
    Ich ging wieder nach unten. Meine Mutter spülte ihre Müslischale unter dem Wasserhahn ab. »Sie ist nicht da«, sagte ich. »Sieht so aus, als wäre sie gestern Nacht nicht nach Hause gekommen.«

    Meine Mutter wandte sich zu mir um, die Hände noch nass. »Was?«
    Mein Vater sah erschrocken von seiner Zeitung auf. »Sie hat nicht angerufen?«
    »Hat sie dir erzählt, was sie gestern Abend vorhatte?«, fragte meine Mutter.
    »Nein. Sie war gestern Morgen ein bisschen bedrückt, aber sie wollte nicht sagen, warum.«
    »Dieser Mensch, mit dem sie sich immer getroffen hat«, fragte meine Mutter mich, »weißt du, wer das ist?«
    »Sie will mir nichts erzählen.«
    Ich ging in Lilas Zimmer und nahm den Stundenplan von der Pinnwand über ihrem Schreibtisch. Wir riefen bei der Zeitschrift Composito Mathematica an, wo sie neben dem Studium arbeitete. Sie war am Vortag nicht bei dem Treffen um siebzehn Uhr gewesen. Als Nächstes riefen wir einen Mann namens Steve an, der die Lerngruppe leitete, an der Lila teilnahm; dort hatte sie ebenfalls gefehlt.
    An diesem Punkt rief mein Vater die Polizei an und meldete sie als vermisst. Ein Beamter kam zu uns nach Hause und bat um ein Foto von Lila, das er in eine Plastikhülle steckte. Als er weg war, gingen wir ins Wohnzimmer und warteten darauf, dass das Telefon klingelte. Das war am Donnerstag. Zwei Tage lang fehlte jede Spur von ihr. Es war, als wäre meine Schwester in einen Greyhound-Busbahnhof marschiert, hätte sich eine Fahrkarte nach Irgendwo gekauft und wäre verschwunden.
    Am Samstag dieser Woche wurde Lilas Rucksack in einem Müllcontainer in Healdsburg gefunden. Ihre Brieftasche, ihr Hausschlüssel und ihre Bücher waren noch darin. Das Einzige, was fehlte, war ein blau kariertes, gebundenes Notizbuch, gute zwei Zentimeter dick. Ich war mir sicher, dass das Notizbuch
in ihrem Rucksack gewesen sein musste, als sie das Haus verließ, weil sie es immer und überall dabeihatte. Es war kein Tagebuch im herkömmlichen Sinne. Statt Worten enthielt es Zahlen, Seite um Seite mathematische Formeln. Für mich war der Versuch,
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