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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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gehört. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, mich
durch ihr Schweigen nicht gekränkt zu fühlen. Einmal, als ich ihr vorgehalten hatte, mich zu ignorieren, hatte sie erklärt: »Es ist, als würde ich durch ein Haus wandern. Ich gehe zufällig in ein anderes Zimmer, und die Tür fällt hinter mir zu. Und dann lasse ich mich auf das ein, was in dem Zimmer vorgeht, und alles andere verschwindet irgendwie.«
    Ich streckte den Arm aus und berührte ihre Hand, um sie wieder zurückzuholen. »Schöner Ring. Ist das ein Opal?«
    Sie steckte die Hand in die Tasche. »Der ist nicht echt.«
    »Woher hast du ihn?«
    Sie zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht mehr.«
    Lila kaufte sich nie selbst Schmuck. Der Ring musste ein Geschenk von ihm sein, wer auch immer er war. Allein der Gedanke, sich Lila in einer Liebesbeziehung vorzustellen, war ungewohnt. Sie hatte während ihrer gesamten Highschool- und College-Zeit höchstens eine Handvoll Verabredungen gehabt. Meine Mutter verkündete gern, dass die Jungs ein Mädchen von solch außergewöhnlicher Intelligenz nicht zu schätzen wussten, aber ich hegte den Verdacht, dass meine Mutter das völlig falsch sah. Jungs waren sehr wohl an Lila interessiert; sie hatte nur einfach keine Verwendung für sie. Als ich in der neunten Klasse war und Lila in der zwölften, hatte ich beobachtet, wie die Jungen sie ansahen. Ich war diejenige, mit der sie sprachen, die sie zu Partys einluden und mit der sie sich verabredeten, die lustige und unkomplizierte Schwester, auf die man zählen konnte, wenn Gruppenausflüge organisiert oder den Lehrern ausgeklügelte Streiche gespielt werden sollten, aber Lila war alles andere als unsichtbar. Mit ihrem langen dunklen Haar, ihrer Unnahbarkeit, ihrem sonderbaren Sinn für Humor, ihrer Leidenschaft für Mathematik schüchterte sie, so stellte ich es mir vor, die Jungs auf eine Art und Weise ein, wie ich es nie können würde.
Wenn sie den Flur hinunterlief, allein und tief in Gedanken versunken, gekleidet in die exzentrischen Klamotten, die sie sich selbst auf der alten Singer-Nähmaschine meiner Mutter nähte, muss sie vollkommen unzugänglich gewirkt haben. Obwohl die Jungs nicht mit ihr sprachen, war für mich klar, dass sie sie sahen . Ich wurde gemocht, aber Lila hatte ein Geheimnis.
    Selbst nachdem sie die UC Berkeley absolviert und angefangen hatte, in Stanford reine Mathematik zu studieren, reichte es Lila voll und ganz, in ihrem alten Zimmer zu wohnen, an den meisten Abenden mit der Familie zu essen, mit Mom und Dad am Wochenende Videos auszuleihen, während ich mit meinen Freunden unterwegs war. In letzter Zeit jedoch ging sie mehrmals die Woche abends aus und kam erst nach Mitternacht mit einem Lächeln auf dem Gesicht zurück. Wenn ich aus ihr herauszubekommen versuchte, mit wem sie unterwegs gewesen war, antwortete sie jedes Mal: »Nur ein Bekannter.«
    Unsere Mutter war, genau wie ich, begeistert von der Vorstellung, dass Lila sich möglicherweise mit einem Mann traf. »Ich will nicht, dass sie einsam durchs Leben geht«, sagte sie mehr als einmal, wenn ich auch argwöhnte, dass Lila nicht unbedingt in der Lage war, Einsamkeit auf dieselbe Weise zu empfinden wie die meisten Leute. In ihrem Kopf ging so viel vor, dass sie sich nie nach der Gesellschaft von Freunden sehnte. Obwohl wir uns stundenlang leise in der Dunkelheit unterhalten konnten, wusste ich, dass sie genauso zufrieden war, wenn sie allein war, einen Bleistift in der Hand, und an irgendeinem komplizierten mathematischen Problem tüftelte. Ich dachte, für andere Mädchen wäre eine Schwester zu haben wie vor einer Milchglasscheibe zu stehen, durch die die eigene Vergangenheit und Persönlichkeit mit interessanten
Variationen auf einen selbst zurückgeworfen wird. Abgesehen von unserer äußerlichen Ähnlichkeit aber waren Lila und ich so verschieden, dass ich meine Zweifel hegte, ob wir auch Freundinnen gewesen wären, wenn wir in unterschiedliche Familien geboren worden wären.
    Lila trank ihren Kaffee aus, nahm einen Apfel aus einer Schale, schnappte sich ihren Rucksack und sagte: »Richte Mom aus, dass ich heute spät nach Hause komme.«
    »Wie spät?«
    »Spät.«
    »Wer auch immer er sein mag«, sagte ich, »sei nicht zu nachsichtig mit ihm. Er darf nicht glauben, dass er machen kann, was er will.«
    Ich sah den Ansatz eines Lächelns auf ihrem Gesicht. »Ist das eine Regel?«
    »Eine Grundregel.«
    Ich folgte ihr in den Hausflur und nahm ihre schwarze Marinejacke vom Haken
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