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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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könnte - vielleicht nicht, was er getan hatte, aber doch den Mechanismus, der ihn dazu befähigt hatte. Dieser Mechanismus, dessen war ich mir sicher, war eine psychologische Abnormität: eine Art moralische Stimmgabel, die normalerweise bei Menschen vorhanden war, bei ihm jedoch fehlte.
    Dann, eines Nachmittags im August 1991, verschwand er. An jenem Tag betrat ich um halb eins das Restaurant in North Beach, wie ich es drei Monate lang jede Woche getan hatte. Sofort wanderte mein Blick zu einem Tisch in der Ecke, über dem eine Miniatur des Mailänder Doms in Öl hing. Dort saß er sonst immer, an einem Platz, der offenbar speziell für ihn reserviert war. Jeden Montag kam er um Viertel nach zwölf, setzte sich und legte rechts von seinem Brotteller einen Block auf den Tisch. Er sah nur selten auf und nahm seine Umgebung kaum wahr, kritzelte nur fieberhaft mit einem Druckbleistift auf den Block. Er hielt nur inne, um Spaghetti mit Garnelen in Marinarasoße zu bestellen, die er hastig herunterschlang, gefolgt von einem Espresso, den er langsam trank. Die ganze Zeit über arbeitete er an etwas,
schrieb mit der rechten Hand und aß mit der Linken. Doch an jenem Tag im August war er nicht da. Ich spürte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Ich tunkte mein Brot in Olivenöl und wartete. Als der Kellner meinen Salat brachte, wusste ich, dass er nicht mehr kommen würde. Um Viertel nach eins meldete ich mich in der Bibliothek der University of San Francisco, wo ich eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft hatte, krank und nahm den Bus nach Russian Hill. An seiner Wohnung hing ein Zu-vermieten -Schild und die Fensterläden standen offen. Durch die großen Fenster konnte ich sehen, dass alles leer war, alle Möbel waren weg. Mir kam der Gedanke, dass ich ihn möglicherweise nie wieder sehen würde.

2
    »EINE GESCHICHTE hat weder Anfang noch Ende«, pflegte mein Englischdozent im zweiten College-Jahr immer zu sagen. »Willkürlich wählt man den Moment, von dem aus man ein Erlebnis rückschauend betrachtet oder sich vorstellt, wie es weitergeht.« Dieses Motto wusste Andrew Thorpe in jede Unterrichtsstunde einzuflechten, gleich über welches Buch wir diskutierten. Man konnte fast den Moment erahnen, in dem er es sagen würde, da dem Satz immer eine ausgedehnte Pause vorausging, ein Heben der Augenbrauen, ein schnelles Luftholen.
    Ich würde einen Mittwoch im Dezember 1989 wählen. Jedes Mal, wenn ich über die Einzelheiten nachgrübelte, wählte ich diesen Tag, und er wurde zum Ausgangspunkt, von dem aus alle anderen Ereignisse sich entwickelten, wurde zu dem Augenblick, nach dem ich die beiden Teile meines Lebens beurteilte: die Jahre mit Lila und die ohne sie.
    An jenem Morgen hörte ich in der Küche Jimmy Cliff im Radio und wartete darauf, dass der Kaffee durchlief. Unsere Eltern waren schon zur Arbeit gefahren. Lila kam in einer schwarzen Rüschenbluse, einem grünen Cordrock und Converse High Tops nach unten. Ihre Augen waren gerötet, und erschrocken stellte ich fest, dass sie geweint hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Lila zuletzt hatte weinen sehen.
    »Was ist denn los?«
    »Nichts. Es ist einfach nur eine stressige Woche.« Sie machte eine kleine Handbewegung, als wollte sie die ganze Sache schnell abtun. Sie trug einen Ring, den ich noch nie gesehen hatte, einen zarten Goldreif mit einem kleinen schwarzen Stein.
    »Tanz mit mir«, sagte ich, um sie aufzumuntern. Ich nahm ihre Hand und versuchte, sie herumzuwirbeln, aber sie entzog sich mir.
    Die Kaffeemaschine piepte. Ich stellte das Radio leiser und goss ihr eine Tasse ein. »Hat es was mit ihm zu tun?«, fragte ich.
    »Mit wem?«
    »Stimmt doch, oder? Komm schon. Sprich mit mir.«
    Sie betrachtete durch das Küchenfenster einen Ast, der in der vorangegangenen Woche während eines Gewitters auf unsere Terrasse gefallen war. Erst später, als ich die Ereignisse dieser Tage in meinem Kopf wieder und wieder durchspielte, kam es mir merkwürdig vor, dass niemand von uns sich die Mühe gemacht hatte, den Ast aufzuheben.
    »Wie lange liegt der schon da?«, fragte Lila.
    »Eine Weile.«
    »Wir sollten ihn wegräumen.«
    »Ja.«
    Aber keine von uns machte einen Schritt auf die Küchentür zu.
    »Sag mir, wie er heißt«, sagte ich schließlich. »Ich kenne ein paar Jungs aus dem Footballteam. Ich kann ihm einen Denkzettel verpassen lassen.« Das war nur halb als Witz gemeint.
    Lila reagierte nicht; es war, als hätte sie mich überhaupt nicht
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