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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi
Autoren: Jörg Maurer
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die puren Höhenmeter und die Dicke des Stahlseils. Es geht um die nackte Angst. Jennerwein ahnte die Gedanken Marias, er ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen, er prüfte alles nochmals genau nach: Gurtzeug richtig angelegt? Sicherheitsschlaufen gegengeschlauft? Karabiner zugeschraubt? Knoten korrekt? Selbstsicherungsschlinge vorbereitet?
    »Sind Sie bereit, Chef?«, fragte Ostler, während er ebenfalls nochmals alles nachprüfte.
    »Alles klar. So eine Gelegenheit bekommt man nicht oft.«
    »Gute sechzig Meter geht es nach unten. Wenn Sie wieder hoch wollen –«
    »Dann klettere ich rauf wie Spider-Man, oder ich mache mich über Funk bemerkbar.«
    Ostler nahm den Kommissar auf Zug, zuerst berührten Jennerweins Füße noch den Fels, dann schwebte er zwischen Himmel und Erde. Der Vergleich ist mehr als abgegriffen, aber einen besseren gibt es nicht für das Gefühl, das man hat, wenn einen lediglich ein bleistiftdickes Stahlseilchen von einem Sturz in den sicheren Tod abhält. Das ist nicht zu beschreiben, das ist in dürren Worten nicht auszudrücken. Es gibt keine wörtliche Entsprechung, es gibt kein Bild, so etwas darzustellen [1] .
    Jennerwein glitt hinunter. Die Bergwacht hatte die Stelle mit einem gelben Fähnchen markiert, wohl um dem Hubschrauber die nötige Orientierung zu geben.
    »Alles in Ordnung?«, hörte Jennerwein Ostler durch das Funkgerät rufen. Er bestätigte und wurde von Ostler langsam hinuntergelassen, bis er schließlich zu der kleinen Felsnische kam, die einen überraschenden Anblick bot. Erst sah er nur die graue Hose, die im Wind flatterte. Dem anonymen Zeugen, der sich gemeldet hatte, war zu wünschen, dass er nur die flatternde und knatternde Hose gesehen hatte, denn der Körper, der in der Hose steckte, erinnerte kaum mehr an einen Menschen. Er war vollständig mumifiziert. Lederartig und fast nicht mehr als solche erkennbar ragten die Gliedmaßen aus den Kleidungsstücken, die lippenlosen Kieferknochen klappten auf und zu, denn der Wind bewegte den Kopf leicht. Die freiliegenden Zähne vermittelten den Eindruck eines fröhlichen Lachens.
     
    Gerade in dem Augenblick, als Jennerwein das Opfer näher betrachten wollte, vernahm er wieder den Klang der Kirchenglocken aus dem Tal, diesmal etwas deutlicher. Das passt ja genau, dachte er. Wenn man jetzt abergläubisch wäre, müsste man drei Vaterunser beten und sich sofort wieder hinaufziehen lassen. DINGDONG SCHNARRTÄNG . Der kalte Wind, der den Kopf der Leiche bewegte, der Oberammergauer
Wuisler
, ließ nicht nach, der Unbekannte nickte stärker. KLONGKLING . Dann schwiegen die Glocken, und Jennerwein machte sich an die Untersuchung der Leiche.

2
    ä-üi ? ä-ü-jo !!!
    Mittenwalder Jodler, der sogenannte »Almschroa«
    Sechs Wochen zuvor, um die Eisheiligen herum, an der Nahtstelle zwischen Spätfrühling und Frühsommer, hing der Bergführer Johnny Winterholler durchaus lebendig in einer glitschigen Steilwand. Es hatte gerade geregnet, geblitzt und gedonnert, es war schweinekalt in dieser gottverlassenen Höhe, trotzdem kletterte er wohlgemut dahin. Er stellte sich auf einen kleinen Felsvorsprung, drehte sich um und sah ins Loisachtal hinunter. Nach einiger Zeit kam die Sonne wieder heraus, wie so oft in den Alpen ging es Schlag auf Schlag mit den Wetterumschwüngen. Winterholler reckte sich, und sein Hemd rutschte hoch. Dabei traten seine Bauchmuskeln so ansehnlich hervor, dass der amerikanischen Generalswitwe Mary-Lou Templeton, die sich auf der Sonnenterrasse des Restaurants Alpspitze auf dem Osterfelder Kopf die Torten und Windbeutel dutzendweise gab, fast das Armeefernglas aus der Hand fiel.
    »What a battery of sixpacks!«, stöhnte sie angesichts der Bauchmuskeln und stach mit der Gabel ins Cremige.
     
    Johnny Winterholler war in der letzten Zeit eigentlich nur in Wänden geklettert, die vom Tal aus sichtbar waren. Das war ihm aufgefallen. Heute hing er in einer Wand, die für ihn nicht weiter schwierig war, er war ein geübter Kletterer, in allen Lagen zu Hause, und in richtig lebensgefährliche Situationen war er noch nicht oft gekommen. Er hatte die Königsspitze in den Ortleralpen gepackt und das Walliser Weisshorn, und er hatte schon einiges erlebt, was man seinen Freunden und Bergkameraden erzählen konnte: Seilanrisse an scharfen Kalksteinkanten mit halbwegs glimpflichem Ausgang, Wadenkrämpfe in unrechten Momenten, plötzlich auftretende Lustanfälle, sich hinunterzustürzen, Begegnungen mit Gott in allzu
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