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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi
Autoren: Jörg Maurer
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hätten.«
    Maria war interessiert ein paar Schritte nähergekommen. Pubertierende Jugendliche, Liebespaare, Mutproben – die Kerngebiete der Psychologie. Manche waren allerdings der Meinung, dass sie sich damit auch schon wieder erschöpfte.
    »Und was waren das für Mutproben?«, fragte sie.
    »Die Jugendlichen trugen ein Brett auf den Berg«, fuhr Ostler fort. »Das Brett wurde oben so platziert, dass es mit der einen Hälfte auf dem Boden lag, mit der anderen über den Abgrund ragte. Der Bursch stellte sich auf das Brett, das Mädchen ging vorsichtig an ihm vorbei, bis zum freistehenden Ende. Jetzt wurden luftige, aber umso ernsthaftere Liebesschwüre getauscht, dann ging das Mädchen wieder zurück – und man wechselte die Plätze.« Ostler wies auf eine kleine erhöhte Fläche neben dem Absperrgeländer. »Dort ist eine wunderbare Stelle für das
Scharteln
, wie das genannt wurde. Es geht knappe tausend Meter hinunter, aber wenn man sich wirklich liebt – was bedeuten dann schon Zahlen?«
    Maria Schmalfuß war kreidebleich geworden. Sie griff sich an den Hals und hustete. Sie musste sich schon wieder setzen.
     
    »Wurde der Tod des Opfers schon festgestellt?«, fragte Jennerwein.
    »Ja«, sagte Ostler. »Die Bergwachtler sind nach dem mysteriösen Anruf gleich mit einem Hubschrauber ausgerückt und haben sich abgeseilt. Es war nicht schwer, den Tod festzustellen, denn die Leiche war schon mumifiziert. Dann haben sie mich in meiner Eigenschaft als Polizeibergführer verständigt.«
    »Wie lange hängt die leblose Person schon in der Wand?«, fragte Jennerwein.
    »Wahrscheinlich ein paar Wochen, aber
hängen
ist der falsche Ausdruck. Es ist eine kleine Felsnische, fast eine Guffel, in der sie liegt, die leblose Person. Eigentlich sogar bequem sitzt, wenn man das so sagen darf. Die Nische befindet sich etwa sechzig Meter unter uns.«
    »Die Bergwacht hat nichts angerührt?«
    »Natürlich nicht! Die haben uns sofort angerufen.«
    »Todesursache?«
    »Auf den ersten Blick würde ich sagen: verdursten, verhungern, so etwas in der Art.«
     
    Es musste jetzt zwei oder drei Uhr nachmittags sein, denn man hörte die Glocken einer Ehrwalder Kirche von unten im Tal, ganz von ferne und ganz undeutlich. Jennerwein fragte sich, ob das immer noch echte, kostbare Glocken waren. Vielleicht hat mancher katholische Sprengel seine bronzenen und kupfernen Schätze schon verscherbelt und lässt das Gedröhne von einer gesubwooferten Hi-Fi-Anlage kommen. DING - DONG in Niederbayern, KRAWUMM - KRABOIING von Notre-Dame. WRRRONG ! WRRRONG ! im Voralpenland. TU FELIX AUSTRIA in Österreich, wenn das möglich ist.
    »Wie kommt es eigentlich«, fragte Maria, die sich wieder etwas gefasst hatte, »dass die Leiche wochenlang unentdeckt geblieben ist?«
    »Das kommt bei uns schon mal vor«, entgegnete Ostler. »Bergsteiger stürzen in Felsspalten, die Wetterverhältnisse sind schlecht, der Hubschrauber kann deshalb nicht fliegen, mit Hunden kann man in diesem Gelände nicht suchen – da gibt es viele Gründe. In unserem Fall kommt noch etwas dazu. Die besondere Lage dieser Felsspalte. Sie ist etwas schräg in die Wand eingelassen.«
    »Wann wird die Leiche geborgen?«, fragte Jennerwein.
    »Wenn wir sie freigegeben haben.«
    »Ich möchte sie mir vorher noch persönlich anschauen«, sagte Jennerwein. »Kann ich mich abseilen?«
    Ostler hatte auf diese Frage wohl gewartet.
    »Natürlich. Die Bergwacht hat uns ihre Seilwinde zur Verfügung gestellt. Mit der lassen wir Sie die sechzig Meter hinunter. Hier ist ein Sitzgurt. Wissen Sie, wie so etwas funktioniert?«
    Jennerwein wusste es. Er war schon ein paar Mal mit dem Allgäuer Hauptkommissar Ludwig Stengele, dem zweiten leidenschaftlichen Kletterer und Bergspezialisten im Team, in der Wand gehangen.
    »Dann ein gutes Gelingen, Chef.«
     
    Der Leiter der Mordkommission IV brauchte keine fünf Minuten, um sich in ein seil- und karabinerbehangenes Etwas zu verwandeln. Maria schaute entsetzt aus sicheren zehn Metern Entfernung hin, und ab und zu durchfuhr sie ein frostiges Schütteln, als würden sie die kompliziert aussehenden Abseilgurte allein schon in den Abgrund ziehen.
    »Wissen Sie, was Sie da tun, Hubertus?«
    »Keine Angst, Frau Doktor. Dieser Klettergurt würde sogar einen Kleinwagen halten. Die Wahrscheinlichkeit, hier abzustürzen, ist gleich null.«
    Ja, du mit deinem logozentrischen Ansatz, dachte Maria. Darum geht es gar nicht. Es geht nicht um Chancen und Statistiken und
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