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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Protest sich zu einem Wort und Programm verdichtet hatte, das viele von uns ablehnten, auch ich: Ausreise.
    Alles in allem: Störenfriede.
    Die Staatsmacht – wir erinnern uns weiter – reagierte entschieden, zielgerichtet und brutal. Die Zahl der Protestierenden war noch gering. So konnten die Einsatzkräfte von Polizei und Stasi der Lage alsbald wieder Herr werden. In Plauen allerdings war am 7. Oktober schon Großdemonstration – zwanzigtausend Menschen gingen auf die Straße, mehr als ein Viertel der damaligen Bevölkerung. Einige Studentinnen und Arbeiter bekamen nach Auflösung der Demonstration – »Gesicht zur Wand«– den für derartige Zwecke vorgesehenen Nachhilfeunterricht. Unsere Mächtigen brauchten für ihre Exempel ihre »Rädelsführer«. Neu war: Die Festgenommenen schrieben unmittelbar nach der Entlassung Gedächtnisprotokolle, sie schrieben auf, was ihnen angetan worden war. Und diese Texte wurden Kampftexte gegen die SED für diejenigen, die vorher noch nicht bereit gewesen waren zu protestieren. Sie taten es jetzt.
    Es begannen die Fürbittandachten und Mahnwachen in unseren Kirchen, organisiert von kleinen, überschaubaren Gruppierungen. Minderheiten immer noch, die von wachsamen Mehrheiten durchaus unter »operativer Kontrolle«gehalten werden konnten.
    Mein Gott, wie schnell in diesem kalten, heißen Herbst aus Wachen und Beten, Reden, Planen, Singen, Organisieren – Protestieren wurde. Wie schnell aus Aushalten, Angsthaben, aus Trauer und Ohnmacht Mut, Fantasie und sogar Kraft wurden! Gleich kommen die Leipziger in unseren Erinnerungsblick: Plötzlich all diese Menschen auf der Straße. Jetzt geht es los. Diese Massen. Je nach Alter denken wir an frühere Situationen: 1953, 1956, 1968. Und voller Zweifel und Angst fragen wir noch: Können wir das schaffen, was Solidarność in Polen schaffte?! Mit solchen Zweifeln und solchen Ängsten haben wir die nächsten Demonstrationen vorbereitet.
    Gleich werden sie in Berlin das Tor aufmachen, plötzlich und verschämt, kleinlaut – so anders als in der Zeit, als sie es schlossen –, sie wollen Druck ablassen. Retten, was noch zu retten ist. Doch wir sahen es anders: Wir wollten ändern, was geändert werden musste. Mutige Frauen und Männer starten sanfte und doch revolutionäre Aktionen gegen die Stasi-Dienststellen – wir schreiben Anfang Dezember. »Stasi in die Produktion!«– unser alter Schlachtruf von den Demos – soll nun Wirklichkeit werden, und ihr Herrschaftswissen soll in unsere Hände und Köpfe, in die des Volkes kommen, das sie so lange unterdrückt hatten. Dann werden die Genossen den Alten feuern und den Grinsenden 5 heuern; nützen wird ihnen das am Ende nichts. Sein sozialistischer Biedersinn erhält eine nur kurze Hauptrolle.
    Man inszenierte in kleiner Besetzung das Kammerspiel »Reform des Systems«. Zu spät. Die Massen waren stürmisch erwacht. Plauen sei dank! Sie wollten nicht Kammerspiel. Sie wollten Endspiel. Götterdämmerung war angesagt.
    Der Schnelldurchlauf der Bilder taucht alles in das Licht des Mirakels. Aber dieses wunderbare Mirakel hatte Wurzeln. Es bildete sich in der frühen Sehnsucht der Unterdrückten, es bildete sich in Liedern, Predigten, Gedichten, in Torheiten, in Niederlagen, in Tränen, es bildete sich im Hoffen.
    Wir wollen aufsuchen und rühmen, was sich als Wagnis der Eigenständigkeit an die Öffentlichkeit traute, ohne je des Erfolges sicher zu sein. Dabei bleiben wir zunächst in der Nähe der Herbstereignisse 1989 und denken an den Mut der allerersten Demonstranten, die noch nicht wissen konnten, dass aus der schweigenden Mehrheit eine solidarisch handelnde Mehrheit werden würde. Wir denken an die ersten Programme, an Aufrufe und Aufklärungsschriften, verfasst und geschrieben mit dem Willen zu drastischer politischer Veränderung in unserem Land, um dem vormundschaftlichen Staat abzuschwören.
    Wir danken den Verfassern für ihren Mut, den Schutzraum Kirche zu verlassen, jede Öffentlichkeit zu suchen, die sich bot. Wir rühmen die Entschlossenheit derer, die den Bürgerbewegungen zum politischen Leben verhalfen, und die Gründer der sozialdemokratischen Partei, die nicht auf die Bedenkenträger in Ost und West hörten, sondern selber die Gesetze des Handelns entwickelten. Wir denken an die Vorläufer des Herbstgeschehens: Die Gruppe der »Störer« der Berliner Liebknecht-Luxemburg-Demonstration. 6 Sie hatten den Mut, mit einem einzigen Zitat von Rosa Luxemburg die Rituale der
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