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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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wenn wir gehen dürfen.
    –Ausbeutung, Apartheid und Unterdrückung warten auf den Hass der Liebenden.
    –Die Opfer jeder Gesellschaft warten auf die Nähe von Genossen und Geschwistern, die diese Namen verdienen.
    –Und: Unsere Kirche will auferstehen zum Leben!
    Nehmen wir Abschied, Freunde, vom Schattendasein, das wir leben in den Tarnanzügen der Anpassung. Also: die Brücke betreten in das Leben, das wir bei Jesus Christus lernen können!
    2 Joachim Gauck, »Abschied vom Schattendasein der Anpassung«, Manuskript in Privatbesitz, abgedruckt in: Walter Kempowski, Mein Rostock, Frankfurt am Main 1994, S. 104–108.

1989 – Das Später kam früher
    Der Beitrag erschien 2009 3
    Ich beginne mit dem Glück. Wir schrieben den 19. Oktober 1989. In der Rostocker Marienkirche drängten sich Tausende von Menschen. Sie waren nicht zum ersten Mal hier, sondern hatten schon in der Vorwoche ihren Wunsch nach Erneuerung der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Das hatte andere motiviert dazuzukommen, so wurden in anderen Kirchen Parallelgottesdienste mit exakt denselben Texten abgehalten. Wir Organisatoren dieser Veranstaltungen trugen über unsere Netzwerke Informationen von den sich neu bildenden Bewegungen und aus anderen Städten zusammen. All diese Menschen hatten gehört von den Montagsdemonstrationen in Leipzig seit September, von den Demonstrationen in Plauen seit Anfang Oktober. Sie hatten im Westfernsehen Tausende von Flüchtlingen in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag gesehen, gehört von der Massenausreise in verriegelten Zügen über Dresden, sie hatten die Prügelorgien der Staatsmacht in Dresden und am 7. Oktober in Berlin beklagt, und viele hatten für die Opfer Mahnwachen und Fürbittandachten organisiert. Aber auf der Straße waren sie bis jetzt noch nicht gewesen. Was würde jetzt in Rostock geschehen? Fehlte uns der Mut der Sachsen? Mussten wir Mecklenburger uns an den Tankstellen im Süden beschimpfen lassen, weil es im Norden zu keinen »öffentlichen Kundgebungen gegen den Staat« gekommen war?
    Ich war damals seit fast zwanzig Jahren Pastor in Rostock, seit Kurzem auch Sprecher des »Neuen Forums«. An jenem 19. Oktober 1989 predigte ich in der überfüllten Marienkirche – über Amos 5, 21–24, wo es unter anderem heißt: »Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran … Es soll aber Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.«
    Der Staatsfeiertag am 7. Oktober 1949 anlässlich der DDR- Gründung vierzig Jahre zuvor war erst wenige Tage vorbei. Wir alle in der Kirche hatten in den Nachrichten die Menschenströme gesehen, die an den Tribünen vorbeigezogen waren und der ergrauten Macht ihren Tribut gezollt hatten. Wir alle hatten uns dabei gesehnt nach einem Amos, einer Kassandra, einem Jan Hus oder einem Martin Luther King, der – so sagte ich damals – »das kollektive Unrechtsempfinden und die kollektive Sehnsucht nach Wahrheit und Recht« ausdrücken würde. Aber war es nicht an einem jeden von uns, die Freiheit einzuklagen?
    Da hörte ich mich auf einmal sagen, dass es Menschen gebe, die ihrer Angst »Auf Wiedersehen« sagen und den aufrechten Gang trainieren: »Wir wollen nicht in der Schizophrenie unser Leben verbringen. Wir wollen hier leben in Wahrheit und Gerechtigkeit … Es gibt genug Stasi-Leute um uns herum, wir suchen die Stasi nicht in uns.« Erst gab es eine Pause. Einige schluchzten. Dann fingen alle an zu klatschen.
    Nach dem Gottesdienst formte sich aus den Tausenden in der Marien- und der Petrikirche ein langer Zug, ein Zug ohne Transparente, ohne laute Parolen, aber mit Kerzen. Wir zogen vorbei an den Zwingburgen der Staatsmacht, der unbeleuchteten Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit, der Bezirkszentrale der SED , dem Rathaus. Wir warfen keine Steine, aber wir klatschten und pfiffen vor dem Hochhaus, in dem viele Stasi-Mitarbeiter wohnten, und wir brachen aus in Hohngelächter, als uns vor dem Stasi-Gebäude eine Stimme per Lautsprecher aufforderte: »Verlassen Sie den Platz! Lösen Sie die Demonstration auf!«
    Der Abend des 19. Oktober bedeutete in Rostock den Durchbruch. Wir hatten das Lebensgefühl der Massen in Leipzig nach Rostock geholt. »Wir sagen unserer Angst ›Auf Wiedersehen!‹« Als die erste Massendemonstration in unserer Stadt zu Ende ging, wussten wir alle, die
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