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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott
Autoren: Kai Meyer
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gefriere das Innere des Kreises zu einer mächtigen Säule aus Eis.

Kapitel 1  
    ls er erwachte, war er blind. Da waren auch Schmerzen, starke Schmerzen. Mit ihnen konnte er umgehen; die Blindheit aber war etwas anderes. Es war lange her, daß etwas ihm solche Angst gemacht hatte, mehr als zwanzig Jahre. Damals, allein im Wasser, da war er genauso hilflos gewesen.
    Aber das war lange her, und die Zeit hatte das Gefühl der Angst in seiner Erinnerung zum Verblassen gebracht. Er wußte noch, daß er sich gefürchtet hatte, aber wie es genau gewesen war, das hatten die Jahre für ihn verdrängt.
    Jetzt aber war die Furcht wieder da, und er erkannte sie wieder wie einen bösen, alten Feind.
    Er konnte nichts sehen, nichts als tiefe, formlose Schwärze. Keinen Schimmer von Licht, kein Glühen in der Ferne, nicht einmal den Nachhall dessen, was er vor seiner Bewußtlosigkeit erblickt hatte. Nur Finsternis.
    Hagen von Tronje schrie auf, gellend und lang und verzweifelt. Seine Finger fuhren in Panik hoch zum Gesicht, die Lederkappen seiner Handschuhe berührten die Lider. Seine Augen waren noch da, keines war ausgestochen oder von einem Hieb zerfetzt. Aber die Berührung tat weh, weh genug, um ihn abermals aufschreien zu lassen.
    Blind! dachte er immer wieder, während das Entsetzen in ihm tobte.
    Blind.
    Er lag am Boden, unter seinem Rücken war hartes Gestein.
    Die Felsen! Er erinnerte sich. Die Schlacht hatte unten in der Ebene begonnen und sich immer weiter hinauf in die Berge verlagert. Er war mit seinem Trupp aus Söldnern und Halsabschneidern in einen Hinterhalt geraten, wo andere Söldner und Halsabschneider ihnen den Garaus gemacht hatten. Er erinnerte sich, daß ihn der Angriff zweier Gegner nach hinten geschleudert hatte, er war gestürzt, vielleicht mit dem Kopf aufgeschlagen. Möglicherweise war seine Blindheit nur eine zeitweilige Auswirkung des Aufpralls. Das konnte sein; ja nur ein Moment noch, bis sich seine Sinne klärten und er wieder –
    Blind.
    Seine Hoffnungen lösten sich in Nichts auf. Die Schmerzen in seinen Augen, vor allem im linken, waren zu stark. Das war mehr als eine leichte Verwirrung seiner Sinne. Er führte eine Fingerspitze an die Zunge, leckte Blut vom Handschuh. Blut aus seinen Augen? Es schmeckte so stählern wie eine Schwertklinge, roch wie geschlachtetes Vieh. Hagen hörte den Wind in den Felsspalten klagen. Seine übrigen Sinne waren demnach nicht geschädigt. Nur seine Augen. Seine Sehkraft.
    Er wälzte sich schwerfällig herum, kämpfte sich auf die Knie. Sein Kettenhemd klirrte leise, die schützenden Eisenschalen um seine Schultern und Gelenke knirschten. Seine Hände tasteten über den Boden, viel zu schnell, viel zu ungelenk. Sie berührten etwas Weiches, Regloses. Ein Leichnam, gleich neben ihm. Er tastete weiter, schob sich auf allen vieren vorwärts. Noch ein Toter und noch einer.
    Er verharrte, wagte nicht, weiterzukriechen. Die Felsen, das wußte er noch, waren schroff und steil. Er mochte zu nahe an eine der Kanten geraten, zwanzig Schritte in die Tiefe stürzen, hilflos am Boden zerschellen.
    Ein Krüppel, dachte er, erst verächtlich, dann verzweifelt. Es war gleichgültig, ob er in einer oder zwei oder drei Wochen wieder sehen konnte; er würde nicht einmal heil von den Felsen herunterkommen, ohne sich sämtliche Knochen zu brechen. Ein Fressen für die Raben.
    Vielleicht war das der richtige Zeitpunkt, um wieder mit dem Weinen zu beginnen. Wenn nicht jetzt, wann sonst? Hatte er nicht allen Grund dazu? Er war kein Krieger mehr, es wäre keine Schande gewesen, wenn man ihn heulend gefunden hätte.
    Unwillkürlich fragte er sich, ob seine blicklosen Augen überhaupt noch Tränen zustande brachten.
    Er straffte sich abrupt. Sein Selbstmitleid brachte ihn nicht weiter. Er mußte irgendwie hier herunterkommen, zurück auf festen Boden, wo nicht jeder Schritt sein Leben bedrohte.
    Seine Finger fanden beim Umhertasten einen Schwertgriff. Beinahe hätte Hagen laut aufgelacht. Ein Schwert, in seiner Lage! Er nahm es und wollte es in einer Aufwallung von Haß (auf sich, auf die Welt) davonschleudern, als ihm einfiel, daß es ihm doch noch weiterhelfen mochte. Wie oft hatte er mitangesehen, wie Blinde sich ihren Weg mit Hilfe von Stöcken suchten. Wie ungemein passend, daß ihm nun zum selben Zweck ein Schwert dienen sollte. Ihm, der er sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als das Leben anderer mit Schwertern auszulöschen.
    Er hielt die Klinge weit vorgestreckt und
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