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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott
Autoren: Kai Meyer
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er kurz darauf nicht mehr, wie er innerhalb eines Augenblicks plötzlich auf die andere Seite des Tannenkreises geraten war, beide Fäuste um einen der Pflanzenstränge geklammert.
    Die Strömung! Sie war viel stärker, viel schneller, als er angenommen hatte. Und schon spürte er, wie sie an seinen Armen zerrte, wie sie ihn mit sich reißen wollte.
    Irgendwie gelang es ihm trotzdem, sich an dem Strang aus verschlungenen Wasserpflanzen entlangzuhangeln, bis er einen der Tannenwipfel erreichte. Er dachte nicht mehr an die Gefahr, in der er schwebte, nicht ans Ertrinken, Zerschellen, an eine tödliche Erkältung. An nichts von alledem. Der Gedanke an das Gold beherrschte sein ganzes Denken. Dafür mochte es sich lohnen zu sterben, damit konnte er auch vor sich selbst rechtfertigen, warum er überhaupt für dieses Abenteuer sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Plötzlich war es kein Kinderstreich mehr; wenn er das hier überlebte, dann war er ein Held!
    Er klammerte sich mit Armen und Beinen an den Baum, der sich leicht mit der Strömung vornüberbeugte. Mit einer Hand pflückte der Junge das Geschmeide aus den Zweigen wie goldene Früchte. Er stopfte es im Chaos der Gischt in seinen Hosenbund, in der Gewißheit, daß seine Hosenbeine in den Stiefeln steckten und er seinen Schatz nicht verlieren würde.
    Weiter hangelte er sich an den Pflanzensträngen, und das Wasser, das er dabei schluckte, hätte den Durst einer halben Armee gestillt. Doch er erreichte auch diesmal sein Ziel, packte den Wipfel, hielt sich fest und zog das Gold aus den Zweigen.
    Nur einmal kam ihm die Frage in den Sinn, wie das Geschmeide hierhergekommen war. Elstern, sagte er sich; sicher hatten sie es in den Bäumen versteckt, lange vor dem Hochwasser.
    Er zweifelte nicht an seinem Tun, glaubte auch nicht, daß er etwas Unrechtes tat. Wem auch immer das Gold einst gehört hatte, nun hatte der Fluß es für sich beansprucht. Der Fluß! Was sollte der schon damit anfangen?
    Noch ein Tannenwipfel stand aus, der fünfte und letzte. Der Weg dorthin war schnell überwunden. Schneller noch war das Gold eingesteckt. Schwer und kantig füllte es die Hosenbeine des Jungen, zog ihn merklich nach unten. Er aber dachte nur: Ich bin reich genug, um mir eine eigene Burg zu bauen.
    Etwas veränderte sich, schlagartig.
    Von einem Moment zum nächsten machte die reißende Strömung einen Bogen um das Innere des Tannenkreises. Sie teilte sich rechts und links des Bootswracks und floß zu beiden Seiten an den Baumwipfeln vorüber. In der Mitte des Kreises aber glättete sich die Oberfläche, bis sie so ruhig dalag wie ein riesiger Spiegel. Das Abbild des Vollmondes schimmerte darin wie eine weiße Pupille in einer schwarzen Iris.
    Entgeistert bemerkte der Junge, wie der Druck auf seinen Körper nachließ. Er befand sich im Inneren des Kreises. Nur eine Armlänge von ihm entfernt schossen die Fluten mit ungehemmter Wut nach Norden; hier aber, auf seiner Seite des Pflanzenstranges, war das Wasser so still und glatt wie ein Bergsee.
    Da, plötzlich, entstand im Zentrum des Zirkels eine Bewegung, genau dort, wo das Spiegelbild des Mondes schwebte wie eine leuchtende Scheibe. Das Wasser begann sich zu drehen, erst ganz langsam, dann schneller, bis ein gewaltiger Strudel entstand. Seine scheinbare Trägheit täuschte, seine Kraft war jener der Strömung um ein Vielfaches überlegen. Dem Jungen blieb nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen. Er wurde vom äußeren Arm des Strudels gepackt, verlor den Pflanzenstrang aus den Händen und trieb in einer rasenden Kreisbewegung zum Mittelpunkt des Tannenzirkels. Einen Herzschlag lang war ihm, als beugten sich die schwarzen Wipfel einander zu, um verstohlen miteinander zu flüstern; dann drang Wasser in seine Augen, schäumte kalt in seinen Mund.
    Er wußte, er würde ertrinken.
    Doch er täuschte sich abermals. Der Strudel erstarb im selben Augenblick, da er den Jungen in das Zentrum des Kreises gezogen hatte. Das Wasser glättete sich wieder, die Spiegelung des Mondes festigte sich erneut – der Junge schwamm genau in ihrer Mitte, ein Dorn im Herzen des Lichtauges.
    Er wollte schreien, um Hilfe brüllen, Gnade erflehen. Doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. Das Entsetzen knebelte ihn mit Schweigen, der Mond fesselte ihn im Zentrum der wispernden Wipfel.
    Er spürte, wie die Kälte des Flusses immer noch eisiger wurde. Sie schien aus der Tiefe emporzusteigen, ganz genau unter ihm, kam immer höher und höher, so als
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