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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott
Autoren: Kai Meyer
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Den Göttern sei Dank, er war wieder im Freien!
    Immer noch preßte sich der Bootsrumpf längsseits gegen die beiden Tannen. Gedankenverloren hielt der Junge sich wieder an der Reling fest, als ihm plötzlich in einem der Baumwipfel etwas auffiel.
    Etwas glänzte zwischen den Ästen.
    Neugier verdrängte die dumpfe Gleichgültigkeit in seinem Schädel. Mit beiden Händen zog er sich an der Reling entlang bis zu jener Stelle am Heck, wo sich das Boot an den gebogenen Wipfel drängte. Zitternd streckte er eine Hand aus. Ohne größere Mühe gelang es ihm, das Glitzerding zu umfassen.
    Es war ein Goldreif, und als er erst einmal die Nadelzweige beiseite geschoben hatte, entdeckte er, daß dort, ganz nah am Stamm des Baumes, noch weiteres Geschmeide hing. Eine Kette aus hauchdünnen Goldplättchen; eine edelsteinbesetzte Krone, würdig einer Fürstin; mehrere Ringe, die mit einer Schnur zusammengebunden waren; dazu ein Diadem, wie seine Mutter kein schöneres besaß.
    Es gab keinen Zweifel: Dies waren Reichtümer, wie selbst Edelleute sie sich erträumten.
    Der Junge konnte sein Glück kaum fassen. Vergessen waren für den Moment die Gefahren des Rheins, vergessen auch jeder Gedanke ans Alleinsein, an die Heimat, ans Sterben.
    Ihm kam ein kühner Geistesblitz: Wenn es in diesem Baum solche Schätze gab, dann vielleicht auch in dem anderen!
    So schnell er konnte schob er sich an der Brüstung entlang zum Bug. Hier mußte er sich weit hinauslehnen, ehe die Zweige des Tannenwipfels zu fassen bekam. Mit angestrengtem Stöhnen zog er sie auseinander wie einen Vorhang.
    Und da war noch mehr Gold!
    Reife, Ringe, Ketten. Sogar eine kunstvoll verzierte Schatulle, faustgroß, an einem Band um den Stamm verharkt. In ihrem Inneren fand der Junge ein gutes Dutzend Ohrringe, manche mit funkelnden Steinen besetzt.
    Er häufte seine Schätze vor sich auf, in einem Winkel der Reling, wo die Brecher, die über das Deck fegten, sie nicht fortspülen konnten. Er überlegte einen Augenblick, dann streifte er trotz der Kälte sein Wams ab; darunter trug er nur ein dünnes Leinenhemd. Er machte einen Knoten in den oberen Teil des Kleidungsstückes, damit die Öffnungen für Kopf und Arme verschlossen waren. Dann häufte er mit beiden Händen das Geschmeide hinein, sicherte es mit einem zweiten Knoten. Das fertige Bündel befestigte er an seinem Gürtel, zog und zerrte daran, bis er Gewißheit hatte, daß er es nicht verlieren würde.
    Dann erst schaute er sich um.
    Keuchte auf, atemlos vor Freude.
    Da waren drei weitere Tannen. Sie bildeten zusammen mit den beiden, die das Boot hielten, einen Kreis aus Wipfeln auf der Wasseroberfläche. Es sah aus wie ein Zirkel zusammengekauerter Zauberer in schwarzen Roben, mit schwarzen, spitzen Hüten. Der Durchmesser des Kreises betrug etwa zwölf Schritte, je fünf lagen zwischen den einzelnen Bäumen.
    Einen Moment lang fragte sich der Junge, wer die Bäume in so perfekter Kreisform gepflanzt und aufgezogen hatte. Ihre Anordnung war viel zu gleichmäßig, viel zu gewollt, als daß der Zufall sie hätte schaffen können.
    Ein seltsames Unbehagen überkam ihn mit der Plötzlichkeit eines Blitzschlages.
    Und ebenso schnell verging es wieder. Denn auch in den drei übrigen Wipfeln sah er es nun glänzen. Mehr, noch mehr Gold!
    Wütend über seine Hilflosigkeit blickte er über die rasende Wasseroberfläche. Zwischen den Wipfeln, die etwa schulterhoch aus dem Fluß ragten, hatte sich nicht nur das Boot verfangen; armdicke Stränge aus Wasserpflanzen reichten von Baum zu Baum.
    Ohne Zögern, den Geist vom nahen Reichtum verschleiert, hangelte sich der Jung über die Reling, streckte einen Fuß ins Wasser. Das schwankende Schiff zog ihn hoch und wieder herunter, doch der kurze Moment, in dem sein Bein bis zum Knie unter der Oberfläche verschwand, reichte aus, ihm erneut die Kälte des Wassers ins Gedächtnis zu rufen.
    Trotzdem, er mußte es wagen!
    Wenn er mit all diesen Schätzen nach Hause käme, würde sein Vater sicher auf eine Strafe verzichten. Und er konnte immer noch genug davon für sich selbst verstecken, um irgendwann ein gemachter Mann zu sein – auch ohne den Besitz seiner Familie, der nach dem Tod des Vaters an seinen älteren Bruder fallen würde.
    Er schloß die Augen und ließ sich fallen.
    Die Kälte war wie ein Schlag mit einem Streithammer, hart und kraftvoll und mitten ins Gesicht. Vielleicht verlor er einen Herzschlag lang das Bewußtsein, vielleicht auch nicht; auf jeden Fall wußte
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