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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie
Autoren: W Gibson
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Boutiquen vorbeimarschierten. Als sie mit ihm schließlich im mitternächtlichen Geklapper einer Pachinkohalle stand, hielt sie seine Hand wie ein Kind.

    Es dauerte einen Monat, bis die Konfiguration von Drogen und Anspannung, die sein Leben prägte, diese ewig erschrockenen Augen in Brunnen verwandelte, in denen sich das gleiche Bedürfnis spiegelte. Er hatte beobachtet, wie sich ihre Persönlichkeit spaltete, wie ein Eisberg kalbte, in Schollen davontrieb, und er hatte schließlich das nackte Bedürfnis gesehen, das hungrige Gerippe der Sucht.
    Er hatte beobachtet, wie sie sich den nächsten Druck setzte – mit einer Konzentration, die ihn an die Gottesanbeterinnen erinnerte, die auf Marktständen an der Shiga neben blauen Zuchtkarpfen in ihren Becken und Grillen in Bambuskäfigen feilgeboten wurden.
    Er starrte auf den schwarzen Kaffeering in seiner leeren Tasse. Sie wackelte; das kam von dem Speed, das er sich reingezogen hatte. Die braune Kunstharzbeschichtung des Tisches war von einer stumpfen Patina winziger Kratzer überzogen. Als das Dex ihm die Wirbelsäule hochstieg, sah er die unzähligen willkürlichen Stöße, die es dazu gebraucht hatte. Das Jarre war in einem veralteten, namenlosen Stil des vorigen Jahrhunderts eingerichtet, einer ungemütlichen Mischung aus japanischer Tradition und fahlem Mailänder Plastik, aber alles schien von einem feinen Film überzogen, als hätten die schlechten Nerven von Millionen Gästen die Spiegel und einstmals glänzenden Plastikflächen angegriffen und eine trübe Schicht hinterlassen, die sich nicht mehr abwischen ließ …
    »Hey, Case, alter Freund!«
    Er blickte auf, sah in graue Augen mit Eyeliner. Sie trug einen ausgewaschenen französischen Orbit-Overall und nagelneue weiße Turnschuhe. »Hab dich die ganze Zeit gesucht, Mensch.« Sie nahm ihm gegenüber Platz und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Die Ärmel des blauen Overalls waren an den Schultern abgetrennt. Automatisch suchte er
ihren Arm nach Spuren von Derms oder Einstichen ab. »Zigarette?« Sie kramte ein zerknülltes Päckchen Yeheyuan Filter aus einer Tasche in der Knöchelgegend und bot sie ihm an. Er nahm eine und ließ sie sich mit einem roten Plastikfeuerzeug anzünden. »Schläfst du nicht gut, Case? Siehst müde aus.« Ihr Akzent verriet, dass sie aus dem südlichen Sprawl stammte, aus der Gegend von Atlanta. Die Haut unter ihren Augen war blass und sah ungesund aus, aber sie hatte noch glattes und festes Fleisch. Sie war zwanzig. Die ersten Kummerfältchen gruben sich in ihre Mundwinkel. Ihr schwarzes Haar war mit einem bedruckten Seidenband zurückgebunden; das Muster erinnerte an Mikroschaltkreise oder einen Stadtplan.
    »Bloß wenn ich vergesse, meine Pillen zu nehmen«, sagte er. Eine greifbare Woge der Sehnsucht überrollte ihn; Lust und Einsamkeit kamen auf der Wellenlänge des Amphetamins. Er erinnerte sich an den Duft ihrer Haut im überheizten, dunklen Sarg beim Hafen, an ihre über seinem Kreuz verzahnten Finger.
    All das Fleisch, dachte er, und all seine Gelüste.
    »Wage«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Der will dir’n Loch in den Schädel pusten.« Sie zündete sich selber eine Zigarette an.
    »Wer sagt das? Ratz? Haste mit Ratz gesprochen?«
    »Nee. Mit Mona. Ihr neuer Typ ist einer von Wages Mackern.«
    »Dafür schulde ich ihm nicht genug. Wenn er mich alle macht, sieht er die Knete erst recht nicht.« Er zuckte mit den Achseln.
    »Zu viele schulden dem was, Case. Vielleicht will er an dir ein Exempel statuieren. Solltest echt lieber aufpassen.«
    »Mach ich. Und du, Linda? Haste’nen Platz zum Pennen?«

    »Pennen.« Sie schüttelte den Kopf. »Klar, Case.« Sie zitterte und krümmte sich über dem Tisch zusammen. Ihr Gesicht war schweißbedeckt.
    »Da«, sagte er, wühlte in der Tasche seiner Windjacke und zog einen zerknüllten Fünfziger hervor. Automatisch strich er ihn unterm Tisch glatt, faltete ihn zweimal und gab ihn ihr.
    »Du brauchst es selbst, Süßer. Gib’s lieber Wage.« In den grauen Augen war jetzt ein Ausdruck, den er nicht deuten konnte, den er noch nie darin gesehen hatte.
    »Ich schulde Wage’ne Menge mehr. Nimm schon! Ich krieg bald noch was«, log er, während er zusah, wie seine Neuen Yen in einer Tasche mit Reißverschluss verschwanden.
    »Wenn du das Geld hast, Case, geh gleich zu Wage.«
    »Bis dann, Linda«, sagte er und stand auf.
    »Ja.« Ein Millimeter Augenweiß zeigte sich unter ihren Pupillen. Sanpaku. »Pass auf dich auf,
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