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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie
Autoren: W Gibson
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giftigen Silberhimmel.
     
    In einem Teashop namens Jarre de Thé zwei Blocks westlich vom Chat spülte Case die erste Pille des Abends mit einem doppelten Espresso hinunter. Es war ein flaches, pinkfarbenes Oktagon mit einem stark wirkenden brasilianischen Dexedrin, das er bei einem von Zones Mädchen gekauft hatte.
    Das Jarre hatte verspiegelte Wände; jede Scheibe war mit rotem Neon eingefasst.
    Mutterseelenallein in Chiba, mit wenig Geld und noch weniger Hoffnung auf Heilung, hatte er zunächst eine Art Overdrivesymptom entwickelt. Mit einer kalten Verbissenheit, die seinem Wesen eigentlich gar nicht entsprach, war er losgezogen, um Kapital zu beschaffen, und im ersten Monat hatte er zwei Männer und eine Frau umgebracht – für Summen, die er vor einem Jahr noch als lächerlich betrachtet hätte. Die Ninsei zehrte ihn aus, bis die Straße selbst für ihn zur Verkörperung einer Todessehnsucht wurde, eines verborgenen Giftes, das er ahnungslos in sich getragen hatte.

    Night City glich einem kranken Experiment in Sozialdarwinismus, ersonnen von einem gelangweilten Forscher, der den Daumen ständig auf der FF-Taste hatte. Wenn man zu lahmarschig wurde, ging man spurlos unter, aber wenn man sich zu sehr ins Zeug legte, durchbrach man die empfindliche Oberflächenspannung des Schwarzmarkts und wurde ebenfalls abserviert; in beiden Fällen blieb von einem nur die vage Erinnerung im Kopf einer Gestalt wie Ratz, die zum Inventar gehörte, obwohl Herz, Lungen oder Nieren durchaus im Dienste eines Fremden weiterleben konnten, der genug Neue Yen für die Organbank hatte.
    Das Geschäft hier war ein pausenloses, unterschwelliges Brummen und Summen, und der Tod war die allseits akzeptierte Strafe für Untätigkeit, Leichtsinn oder Ungeschick, kurz, für die Nichteinhaltung der Anforderungen eines tückischen Protokolls.
    Als Case allein an einem Tisch im Jarre de Thé saß und das Oktagon reinknallte, so dass sich an seinen Handflächen Schweißperlen bildeten und er jedes kitzelnde Haar an Armen und Brust plötzlich einzeln spürte, erkannte er, dass er seit einiger Zeit ein Spiel mit sich spielte, ein uraltes Spiel ohne Namen, ein letztes Solitär. Er hatte keine Waffe mehr, scherte sich nicht mehr um die simpelsten Vorsichtsmaßnahmen. Er machte die schnellsten, lockersten Deals auf der Straße und stand im Ruf, alles beschaffen zu können, was gewünscht wurde. Ein Teil von ihm wusste, dass der grelle Lichtbogen seiner Selbstzerstörung unübersehbar war für seine Kunden, die immer rarer wurden, aber derselbe Teil wärmte sich in dem Wissen, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Und das war auch der Teil, der in seiner eitlen Todeserwartung den Gedanken an Linda Lee am meisten hasste.
    Er hatte sie eines Nachts – es regnete – in einer Spielhalle gefunden.

    Unter gleitenden Schemen, die durch blauen Zigarettendunst leuchteten, den Hologrammen von Wizard’s Castle, von Tank War Europa, von der New Yorker Skyline … Und so sah er sie jetzt vor sich, das Gesicht in hektisches Laserlicht getaucht, die Züge zum bloßen Code reduziert: Scharlachrot glühten die Wangen, als das Zauberschloss brannte, azurblau leuchtete die Stirn, als München im Panzerkrieg fiel, golden schimmerten die Lippen, als der wandernde Cursor einen Funkenregen aus der Wand einer Wolkenkratzerschlucht fräste. Er war an jenem Abend in Hochstimmung gewesen, da ein Kilo von Wages Ketamin auf dem Weg nach Jokohama war und er das Geld schon in der Tasche hatte. Aus dem warmen Regen kommend, der aufs Pflaster der Ninsei prasselte, war er hineingegangen, und als er sie sah – ein Gesicht unter Dutzenden an den Konsolen, in das Spiel vertieft, an dem sie saß -, hatte er irgendwie sofort gewusst: die oder keine. Ihr Gesichtsausdruck war der gleiche gewesen wie Stunden später in einem Sarg am Hafen, als sie schlief. Die Oberlippe glich dem geschwungenen Strich, mit dem Kinder einen Vogel im Flug zeichnen.
    Als er die Spielhalle durchquerte und sich neben sie stellte, beschwingt von dem Geschäft, das er gerade gemacht hatte, blickte sie auf. Graue Augen mit verschmiertem schwarzem Eyeliner. Tieraugen, starr im Scheinwerferkegel eines näherkommenden Fahrzeugs.
    Ihre gemeinsame Nacht dauerte bis zum Morgen; anschließend Tickets fürs Hovercraft und sein erster Ausflug über die Bucht. Der Regen ließ auch in Harajuku nicht nach und perlte von ihrer Plastikjacke, während die Kinder Tokios in weißen Slippern und Regenmänteln an den berühmten
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