Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Autoren: Meira Pentermann
Vom Netzwerk:
ihn eine ähnlich unbekannte Dekoration. Er ging in Richtung Treppe und rutschte dabei beinahe auf dem gebohnerten Holzboden aus. Er hörte Stimmen aus dem Esszimmer. Angenehme Stimmen. Leonard schossen Tränen in die Augen. Ein schöner Traum.
    „Da bist du ja endlich“, rief eine freundliche, weibliche Stimme. „Komm schon. Sonst wird das Essen kalt.“
    Leonards Herz machte vor Freude einen Sprung, als er sich dem Tisch näherte und er das Gesicht der Frau erkannte. Ihre tiefbraunen Augen starrten sein verwundertes Gesicht an.
    „Alina?“, flüsterte er.
    Die hinreißende Frau neigte ihren Kopf zur Seite. „Du siehst heute Abend aber wild aus!“
    Leonard blickte an seiner zerzausten Kleidung herunter. Er betastete die Bartstoppeln an seinem Kinn. Warum musste er ausgerechnet jetzt so ungepflegt aussehen?
    Die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte, Alina Marsh, saß im Esszimmer an seinem Tisch. Ihr glänzendes, langes, dunkles Haar und das strahlende Lächeln waren genau so, wie es ihm in Erinnerung geblieben war. Fältchen um die Augen und hier und da noch weitere Falten ließen erkennen, dass einige Jahre vergangen waren, aber sie sah noch lange nicht so erschöpft und heruntergekommen aus wie Leonard. Er ging zum Tisch, hielt sich an der Lehne eines Stuhles dort fest und starrte seine verloren geglaubte Geliebte an.
    „Alles in Ordnung, Dad?“, fragte eine junge, hohe Stimme links von Leonard.
    Er fuhr zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein schon leicht von der Pubertät gezeichnetes Mädchen starrte ihn an. Sie saß aufrecht am Tisch und hatte eine Gabel in der Hand. Leonard lächelte das hübsche, junge Mädchen an; mit dem dunklen Haar, der karamellbraunen Haut und der zarten Nase war es Alina wie aus dem Gesicht geschnitten. Hatte sie gerade ,Dad‘ gesagt? Leonard versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Es war ein so schöner Traum. Leonards imaginäre Tochter hatte seine graublauen Augen. Augen, wie dafür gemacht, Geheimnisse zu hüten. Sie schien elf oder zwölf Jahre alt zu sein und trug einen marineblauen Kapuzenpullover mit der großen, weißen Aufschrift „BMSS 007934“ auf der Brust.
    „Mir geht es wirklich wunderbar… ähm…“ Er wusste nicht, wie sie hieß. „…Schätzchen.“
    „Schätzchen? Setz dich hin und iss, Dad. Du bist ja total gaga.“
    Er setzte sich an den Tisch und spielte mit seiner Serviette herum. Das Essen bestand aus einem kleinen Hackbraten, Dosenerbsen, einer dünnen Suppe, die als Bratensoße herhalten musste, und einer großen Schüssel Kartoffelbrei. Nichtsdestotrotz war es in Leonards Augen ein Festmahl, da er normalerweise selten etwas aß, das sich nicht in einer Fertigbox befand und nur noch in der Mikrowelle aufgewärmt werden musste.
    „Natalia, würdest du deinem Vater bitte die Kartoffeln reichen?“
    „Natalia, – was für ein wunderschöner Name“, sagte Leonard vergnügt.
    Natalia erstarrte in der Bewegung, die Schüssel Kartoffelbrei noch mitten in der Luft. Als er bemerkte, wie ihn zwei Augenpaare besorgt anstarrten, wurde Leonard plötzlich aus seinen Gedanken gerissen und ihm wurde bewusst, wie bescheuert er sich anhören musste. Er wollte diesen Traum genießen, sich an der gegenwärtigen alternativen Realität erfreuen, also musste er alles logische Denken einstellen und sich einfach wie ein glaubhafter Vater verhalten.
    Er räusperte sich. „Warum erzählst du mir nicht von deinem Tag, na, Natalia? Was waren so deine Höhepunkte?“ Leonard war glücklich, dass er seine Tochter ansehen und seiner wahren Liebe gegenübersitzen konnte. Das ist das Leben, das ich hätte haben können. Das Glücksgefühl wurde plötzlich von einer wehmütigen Reue weggeschwemmt.
    „Höhepunkte?“, stammelte das Mädchen. „Du willst die Höhepunkte meines Tages wissen?“
    „Ja, natürlich. Erzähl uns etwas. Hast du irgendwelche schmutzigen Geheimnisse gehört? Hast du was Interessantes gelernt?“
    Natalia neigte ihren Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. Tränen sammelten sich in ihren unteren Augenlidern. Dann sah sie ihre Mutter voller Verwirrung an. Alina zuckte mit den Schultern.
    „Danke, Dad“, sagte Natalia schließlich. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das hast du mich noch nie gefragt.“
    Es verschlug Leonard den Atem. „Wirklich?“
    Natalia nickte zustimmend und nahm einen Bissen von dem Hackbraten. Sie kaute hastig und schluckte den Bissen schnell herunter. „Du bist beim Essen immer so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher