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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition)
Autoren: Ulrich Wickert
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Wolf Graf Baudissin, später Vater der Inneren Führung in der Bundeswehr, gehörten zum IR 9, ebenso wie fast zwei Dutzend der Mitglieder des militärischen Widerstands um Claus Graf Stauffenberg.
    Dann kam der Krieg.
    Fritzsche war in Frankreich, in Warschau, in Russland, der Ukraine und Rumänien. Er wurde hochdekoriert, mit dem EK I, dem Deutschen Kreuz in Gold, dem Infantrie-Sturmabzeichen, dem silbernen Verwundetenabzeichen. Und Rumäniens König Michael ernannte ihn wegen Tapferkeit zum Ritter.
    »Als ich nach dem Frankreichfeldzug 1940 nach Warschau zum Oberkommando des Heeres kommandiert wurde«, erzählte er mir, »habe ich bestimmte Wahrnehmungen gemacht, die mich zutiefst verstörten … Ich begegnete in einem Warschauer Café, wo die Musiker und hervorragenden Solisten der Warschauer Oper, die zerbombt war, nachmittags durch Konzerte ihr Brot verdienten, einem früheren Studienkameraden aus Heidelberg in Zivil. Logges Müller.«
    Er hieß Logges wegen seiner blonden Locken.
    »Wir aßen da unser Sahnebaiser und tranken eine Tasse Kaffee dazu. Und dann lud er mich in eine Villa am Rande der Stadt Warschau ein. Auf meine Frage, was er hier überhaupt zu tun habe, sagte er in seinem Mannheimer Dialekt: ›Isch bin von der Geeeschtapo.‹
    Meine Frage, was er denn überhaupt zu tun hatte, beantwortete er mit einem Beispiel: In dem Warschauer Vorort Praga war in der Nacht ein SS-Posten erschossen worden. Daraufhin ordnete der zuständige SS-Führer von Warschau an, dass in dem ganzen Gebiet jeder zehnte Mann zur Vergeltung zu erschießen sei. Logges Müller hatte offenbar die Aufsicht bei der Exekution. Was ihn besonders bedrückt hatte, war Folgendes: In diesem Geviert war ein Vorortbahnhof, und als da gerade ein Zug einfuhr, mit den ganzen Bauern und Bäuerinnen, die in Warschau ihre Eier und Hühner und ihr Gemüse loswerden wollten, mussten auch diese Leute auf dem Bahnhof antreten, und jeder zehnte Mann wurde erschossen.«
    Die Begegnung hat Fritzsche damals so erregt, dass er einen Soldaten seiner Kompanie bestrafte, weil der einen Juden, der vor ihm nicht den Bürgersteig verließ, geohrfeigt hatte. Und spontan ließ er Mengen nicht verzehrten Kommissbrotes im Ghetto auf die Straße legen.
    16 Jahre später begleitet Fritzsche als persönlicher Referent den Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier in dessen Wahlkreis. In der ersten Reihe bei einer Pressekonferenz in Schwäbisch Hall sitzt Logges Müller, inzwischen Lokalredakteur vom Haller Tageblatt .
    Fritzsche und Logges Müller machen die Nacht durch und erzählen sich von ihren Erlebnissen; der eine vom Widerstand, der andere von der SS.
    Zwei Jahre später vergiftet sich Logges Müller in der Haft. Es hatte sich herausgestellt, dass er für die Ermordung von Juden in Polen verantwortlich war. Und er besaß wohl immer noch die Zyankali-Kapsel, die alle SS-Führer von Himmler abwärts bekommen hatten.
    Zu der Zeit hatten Leute mit ähnlicher Vergangenheit wie Logges Müller schon längst die geheime Akte über Hans Fritzsche angelegt.
    Aber Fritzsche ahnte es nicht. Obwohl es früh schon Zeichen gegeben hatte, die ihn hätten wachsam werden lassen müssen.
    Aber er lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede. Seit 1957 war er Mitglied der CDU. 1947 aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt, hatte er sein Staatsexamen an der Universität Freiburg gemacht und am Internat Birklehof bei Georg Picht gelehrt, bevor er in Bonn Referent des Bundestagspräsidenten Gerstenmaier wurde.
    Aber Fritzsche hätte etwas ahnen können, denn als er nach dem Krieg 1948 noch einmal studierte, um das Staatsexamen für den Lehrerberuf zu machen, wurde er plötzlich in das Zimmer des Rektors der Freiburger Universität, Professor Constantin von Dietze, den er aus Zeiten des Widerstands kannte, gebeten. Von Dietze bedauerte, dass er Fritzsche hatte rufen müssen, aber zwei französische Offiziere in voller Uniform der Sureté hatten darum gebeten. Sie nahmen Fritzsche in ihre Mitte, führten ihn durch die staunende Studentenschaft hindurch ab und setzten ihn in einem Büro der Sureté fest.
    Glücklicherweise erfuhr davon sein Freund Carl-Christoph Schweitzer, der während des Dritten Reichs emigriert war, in Oxford studiert hatte und deshalb noch einen englischen Pass besaß (später wird Schweitzer SPD-Bundestagsabgeordneter und Professor in Bonn). Schweitzer drohte den Franzosen, wenn sie »den Fritzsche nicht sofort freilassen, dann veranstalte ich
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