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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Autoren: Else Ury
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Besitzenden ging, war der Kampf ziemlich aussichtslos. Nein, Marietta hatte sich bisher noch nicht reif und stark genug gefühlt, um ein derartiges Werk zu unternehmen. Sie hatte die Eltern gebeten, sie weiter in Deutschland zu lassen, um später die soziale Frauenschule zu besuchen. Gern war ihr die Zustimmung der Eltern nicht zuteil geworden. Der kluge Vater erkannte, daß sich die Tochter amerikanischem Wesen und heimischen Sitten entfremdete, daß sie in Deutschland Wurzeln schlug. Und die Mutter? Nun, eine Mutter leidet stets, wenn sie eins ihrer Kinder entbehren muß. Trotzdem war sie es, die als Fürsprecherin für die Tochter eingetreten war. An dem Gitter des großväterlichen Gartens war Marietta stehengeblieben. Dort lag das liebe Rosenhaus, jetzt seines schönsten Schmuckes entkleidet. Die Kletterrosen, die es umrankten, waren verblüht. Aber die Astern und die Georginen blühten dafür in übermütigster Buntheit. In flimmerndem Goldkleid stand die Linde da - Marietta mußte an das Bäumlein denken, das andere Blätter hat gewollt. Die Großmama hatte ihr und Anita vor Jahren das Gedicht vorgelesen, damals, als sie aus Brasilien kamen. Was hatte sie ihr nicht gegeben, die liebe Großmama? Alles, was schön und wertvoll in ihrem Mädchenleben gewesen war, hatte sie nur durch sie erfahren.
    Sie wußte, daß sie den alternden Großeltern zum Sonnenschein geworden war, der ihr Haus erhellte und erwärmte. Daß sie selbst wieder jung wurden in dem Bestreben, mit der jungen Enkelin Schritt zu halten, ihr auf all den Wegen der neuen Zeit zu folgen. Und das alles wollte sie ihnen entziehen? Noch waren sie rüstig, die lieben beiden, die Großmama bei weitem mehr als der Großpapa. Aber wie der Herbst dort die Blätter von der Linde streifte, so würden auch sie ihre Kräfte allmählich hinschwinden fühlen. Es war der Lauf der Natur. Und dann wollte sie die Großeltern treulos im Stich lassen als Lohn für all ihre Liebe? Im fernen Land fremden Menschen helfen, während ihr Herz hier in Deutschland bei den Großeltern fest verankert war?

Am Scheidewege
     
    Großmama und Großpapa hielten ihr Nachmittagsschläfchen. Der alte Geheimrat auf dem Sofa, Frau Annemarie daneben in dem bequemen Ledersessel, wie sie es nun schon seit Jahren gewohnt waren. Die Zeitung war der geäderten Hand des Schlafenden entfallen. Seine tiefen Atemzüge mischten sich mit dem Summen einer respektlosen Fliege. Frau Annemarie schlief nicht. Sie blickte von der Uhr drüben an der Wand unruhig zum Fenster, das die schon schrägen Sonnenstrahlen einfing. Wo das Kind nur blieb? Mußte es nicht längst hier sein? Gut, daß ihr Mann schlief und nichts von ihrer Unruhe merkte. Rudi wurde sie auslachen wie stets, wenn sie sich um Mariettas Ausbleiben sorgte. »Binde doch das Mädel an dein Schürzenband fest, daß es dir nicht entlaufen kann. Seitdem die Frau auf die Siebzig lossteuert, wird sie immer wunderlicher.« Obwohl Frau Annemarie knapp die Mitte der Sechziger überschritten hatte, pflegte er sie damit aufzuziehen. Das heißt, wenn er guter Laune war. Dies war jetzt durchaus nicht immer der Fall. Frau Annemaries Blick wanderte zu dem Gesicht des Schlafenden. Sie konnte es nicht verhehlen, daß er stark gealtert war seit der schweren Krankheit damals vor fünf Jahren. Jahre verantwortungsvoller Arbeit hatten Falten und Fältchen um Augen und Mund eingegraben. Und immer noch gab es keinen Feierabend für den gewissenhaften Arzt. Wenn auch die Praxis allmählich an Jüngere überging, der Stamm seiner Patienten war dem alten Geheimrat Hartenstein treu geblieben. Ja, es gab viele, die sich in der chirurgischen Klinik, der er noch immer vorstand, lieber den altbewährten Händen anvertrauten als den jüngeren seiner Assistenten. Wenn nur die Augen mit seiner Willenskraft gleichen Schritt gehalten hätten. Aber die ließen seit geraumer Zeit nach und machten Frau Annemarie fast noch größere Sorgen als ihrem Manne selbst. Augenblicklich aber war es die Enkelin, die all ihre Gedanken in Anspruch nahm. Denn irgend etwas zum Sorgen mußte sie immer haben, sonst wäre ihr nicht wohl, behauptete ihr Mann.
    Geräuschlos erhob sich die alte Dame. Ganz so leichtfüßig wie früher war sie natürlich nicht mehr. Das linke Bein streikte, besonders wenn sie eine Weile gesessen hatte, dann mußte es erst wieder in Gang kommen. Ja, ja, man wurde eben nicht jünger. Behutsam, um den Schlafenden nicht zu wecken, begab sich Frau Annemarie zum Fenster. Und
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