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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
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entspringende Quelle in einen nord-und einen südwärts fließenden Wasserlauf.
    Es dauerte nicht lange, da hatten die drei die andere Seite des Tores erreicht. Auch hier gab es Eis und Schnee – und einen atemberaubenden Anblick: Die orangerote Sonne lag wie ein riesiges Eidotter auf einem weichen Bett von Wolken. Anders als auf der Nordseite des Gebirgszuges war hier der Blick nicht durch Berggipfel behindert, sondern konnte sich unendlich nach Osten, Süden und Westen erstrecken. Din-Mikkith, der seit über zweihundert Jahren die Sonne nicht mehr am klaren Himmel gesehen hatte, kniff die wimpernlosen Lider eng zusammen und hielt die Hände über die Augen. Seine beiden Freunde konnten nur ahnen, was er empfinden musste. Obschon sie selbst das Antlitz der Sonne nur wenige Wochen nicht hatten schauen dürfen, fühlten sie sich jetzt wie neue Menschen. Ein seltsam leichtes Gefühl durchströmte sie, hier, so hoch über den Wolken. Yonathan kam sich vor wie ein Vogel, der sich auf starken Schwingen über alle Grenzen hinwegsetzte, die die Menschen am Erdboden fest hielten. Gern wäre er noch länger hier verweilt, aber Din-Mikkiths Stimme brach den Bann und lenkte Yonathans Aufmerksamkeit zur Gegenwart zurück: »Es ist jetzt Zeit, unseren Freunden Lebewohl zu sagen, Rotschopf. Verabschiede dich von ihnen und wünsche Yonathan viel Glück. Er hat schwere Aufgaben vor sich.«
    Rotschopf, der auf Din-Mikkiths Schulter saß, legte den Kopf schief und beäugte Yonathan forschend. Dann krähte er vergnügt: »Yonathan, liebes Yonathan.«
    Yonathan und Yomi blickten sich erstaunt an. »Hat er eben deinen Namen ausgesprochen oder habe ich mich verhört?«, erkundigte sich der Seemann ungläubig.
    »Es ist eben ein schlaues Rotschopf«, bekräftigte Din-Mikkith.
    »Das ist er«, bestätigte Yonathan gerührt. Er versuchte nicht länger seine Tränen zurückzuhalten und fiel dem Behmisch in die Arme. »Werden wir uns je wieder sehen?«, schluchzte er.
    »Das weiß nur Yehwoh«, erwiderte Din-Mikkith.
    »Ich werde dich so vermissen, Din. Du warst so gut zu uns.«
    »Du musst mich nicht vermissen, Kleines. Ich habe ein Geschenk für dich, das dich immer an mich erinnern wird.«
    »Ein Geschenk?« Yonathan löste sich schwer von der Brust seines Freundes. Sie hatten doch kaum mehr als die wenigen Dinge gerettet, die sie auf dem Leibe trugen. Was wollte Din-Mikkith ihm schenken? Den Rotschopf etwa? »Ich kann das nicht annehmen«, wehrte er ab. »Wir haben dir schon so viel zu verdanken.«
    »Ich möchte es aber«, widersprach Din-Mikkith. »Es würde mich glücklich machen.« Ehe Yonathan noch etwas erwidern konnte, griff Din-Mikkith unter seinen ramponierten Umhang. Für einen Moment verzerrte sich das Gesicht des Behmisch schmerzhaft. Dann zog er den Arm wieder heraus und in der Handfläche eingebettet lag wie ein leuchtender Smaragd – der Keim.
    »Aber Din!«, wehrte Yonathan erschrocken ab. »Das ist doch dein – Keim. Deine ganze Erinnerung und die all deiner Vorfahren ist darin eingeschlossen. Nur durch ihn kannst du dich fortpflanzen. Er ist das Einzige…!«
    »Eben«, unterbrach ihn Din-Mikkith sanft. »Das einzige, was von dem einen Behmisch noch zeugt. Der Keim kann nie mit einem zweiten zusammengefügt werden, er kann keine neuen, kleinen Behmische hervorbringen. Ich bin der letzte, Yonathan.«
    Yonathan spürte erneut die Tränen aufsteigen. Er fand keine Worte und konnte nichts erwidern.
    »Schau, Kleines«, fuhr stattdessen Din-Mikkith fort, »du hast bewiesen, dass du in dem Keim lesen kannst. Ich benötige ihn nicht mehr. Mein Leben neigt sich dem Ende zu.«
    »Aber wie…?«
    »Sag nichts, Kleines. Ich weiß, dass es so ist. Du bist noch jung und lernst das Welt gerade erst kennen. Nutze das Wissen und die Weisheit, die meine Vorfahren und ich erworben haben. Es wiegt nicht so schwer wie die Weisheit Yehwohs, aber es mag dir vielleicht nützlich sein, damit du nicht den Prachtbienen gleichst, die immer nur an das Brautparfüm denken und dabei das Wesentliche übersehen.«
    Yonathan gab den Widerstand auf. Er spürte die Gefühle, die den Behmisch zu diesem Angebot bewogen hatten. Er fühlte, dass er den Freund nur verletzten würde, wenn er seine kostbarste Gabe ablehnte. Vorsichtig nahm er den Keim entgegen und spürte sogleich das verborgene Leben in ihm, ein Leben das schlummerte wie in einem Samenkorn, ein Leben aber auch, das bereit war sich neu zu entfalten – wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu
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