Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
du nicht weiter?«
    Yonathan war das Wort im Halse gefroren. Während er von dem Stab gesprochen hatte, machte er eine schlimme Entdeckung: Er war weg. Haschevet war verschwunden! Das konnte, das durfte nicht sein. Nach all den bestandenen Gefahren konnte der Stab sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Sollte Sethur auf diese Weise doch noch gewonnen haben?
    »Was ist denn los mit dir?«, fragte Yomi drängend. Er hatte den verzweifelten Ausdruck in Yonathans Augen bemerkt.
    »Es ist der Stab!«, bemerkte jetzt auch Din-Mikkith. »Er hat es nicht mehr.«
    »Seid bitte einen Moment still«, bat Yonathan. »Ich muss nachdenken.« Er schloss die Augen und ließ die jüngsten Ereignisse im Geiste vorüberziehen. Die Flucht durch die Kluft: da hatte er den Stab noch gehabt. Der Zusammenprall mit dem Drachen: auch da hatte er den Stab in den Händen gehalten, ihn sogar als Waffe benutzt. Dann die Flucht in das Seitental, die Lawine, die sich explosionsartig hinter ihm aus der Enge der Schlucht befreit hatte. Sein Sturz. Ja! »Mein Sturz!«, schrie er.
    »Verstehst du, was er meint?«, wandte sich Yomi an den Behmisch.
    Yonathan selbst lieferte die Antwort. »Da vorn! Da bin ich gestürzt. Ich muss ihn fallen gelassen haben.« Ohne weitere Kommentare seiner Freunde abzuwarten, stürmte er den Weg zum Rande des erstarrten Eisstromes zurück. Als er diesen fast erreicht hatte, sah er ein gelbliches Blinken. Ja! Tatsächlich! Da lag Haschevet, halb unter einem unförmigen Eisklumpen begraben, der goldene Knauf mit den vier Gesichtern hob sich deutlich von dem weißen Untergrund ab. Er hatte den wertvollen Gegenstand schon fast erreicht, als ihm ein neuerlicher Schrecken beschert wurde.
    »So stehen wir uns also zu guter Letzt allein gegenüber – Auge in Auge«, klang eine unverwechselbare Stimme an seine Ohren.
    Nur vier Schritte von dem Stab entfernt verharrte Yonathan wie eine Maus, die vom Blick der Kobra gelähmt, auf den letzten tödlichen Biss wartet – nur dass es Sethurs Augen waren, in die er starrte, während der fünfzig Fuß über ihm auf dem Eis stand.
    »Bringen wir es also zum Abschluss«, sprach Sethur langsam, bedauernd, aber unwiderruflich wie ein Scharfrichter vor dem todbringenden Axthieb. Anstelle der Axt bediente sich Sethur eines Eisbrockens von gewaltiger Größe. Langsam hob er das riesige Wurfgeschoss über den Kopf.
    Yonathan sah, dass der muskulösen Statur dieses Mannes neben überdurchschnittlicher Geistes-auch beachtliche Körperkräfte innewohnten. Was sollte er tun? Könnte Sethur den Stab mit dieser Eisscholle zerschmettern? Selbst wenn nicht, waren er und seine Freunde in der Lage, diesem Mann, dem offensichtlich übernatürliche Fähigkeiten und Mächte zu Diensten standen, die Stirn zu bieten?
    Er schaute sich um. Din-Mikkith und Yomi versuchten ihm zu Hilfe zu kommen – aber es gelang ihnen nicht! Aus ihren sich windenden Körperbewegungen sprach Hilflosigkeit, aus ihren weit aufgerissenen Augen Verzweiflung. Sie kamen nicht von der Stelle; es war, als würden sie gegen eine unsichtbare Wand ankämpfen.
    Dies musste er allein ausfechten. Er wandte sich wieder Sethur zu mit stolz erhobenem Kopf. Vielleicht vermochte er es nicht aus eigener Kraft. Aber hatte er nicht selbst schon oft erfahren, welche Macht die Worte des Sepher besaßen? Darin hieß es: »Für alles bin ich stark durch den, der mir Kraft verleiht.« Yehwoh verlangte stets von seinen Dienern, dass sie ihren Glauben durch entschlossene Taten bewiesen – aber nie verlangte er Unmögliches.
    Eine warme Woge durchflutete plötzlich Yonathans Körper und schwemmte die eisige, lähmende Kälte hinweg, die Sethurs übermächtige Präsenz hervorgerufen hatte. Unnachgiebige Entschlossenheit in den Augen, erwiderte er den Blick des Heerobersten. Und dann rief er mit fester Stimme: »Geht in Frieden oder bekommt eine Macht zu spüren, der die Eure nicht gewachsen ist.«
    Sethur war trotz seiner Jugend ein hartgesottener Kriegsmann, den so schnell nichts ins Wanken bringen konnte. Die Worte dieses Wichtes da unten sorgten jedoch für einen Moment der Verwirrung. Der Eisblock rutschte über seinem Kopf, und für einen Augenblick gaben seine Arme nach, sodass er die schwere Last erneut ins Gleichgewicht bringen und hochhieven musste.
    Dieser kurze Moment reichte Yonathan aus, um sich nach vorne zu werfen und auf dem Bauch liegend nach Haschevets Knauf zu langen.
    »Du armer, kleiner Narr!«, hallten Sethurs Worte über ihm.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher