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Neobooks - Transalp 6

Neobooks - Transalp 6

Titel: Neobooks - Transalp 6
Autoren: Marc Ritter , CUS
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großen Felsblock über die Flanke hinabrutschen, dann einen Eispickel, dahinter kam etwas anderes daher, was sie zuerst nicht erkannte. Es war ein Rucksack, Spindlers prall gefüllter Rucksack. Immer weiter hinunter sprang er, überschlug sich, blieb einmal fast in einer Schneemulde liegen, ein nachrutschender Felsbrocken hob ihn wieder heraus, und weiter ging die Fahrt zur Lifttrasse und die plattgewalzte, hartgefrorene Piste hinab. Endlich, weit unten, kam der Rucksack zur Ruhe. Fürst konnte ihn deutlich sehen, wie er sich als kleiner Punkt im hellen Firn abzeichnete. Er war anscheinend aufgeplatzt. Etwas Dunkles lag daneben. War Spindler ebenfalls abgestürzt? Egal, sie musste den Rucksack bergen. Danach wäre immer noch Zeit, nach Spindler zu suchen, ob tot oder lebendig. Sie war für lebendig, schließlich hatten sie noch eine Rechnung offen.
    Gipfel des Olperer, 3476 Meter, 3.00 Uhr
    Ohne Rucksack kam Spindler am Gipfel an. Er hatte sich alles angezogen, was der Rucksack zu bieten hatte, die Taschen vollgestopft, soweit es ging. Dann hatte er den Rucksack mit zwei Felsbrocken gefüllt und auf seine Reise geschickt. Unter dem Anorak, auf seinem Bauch, trug er ein Paket. Der Anorak war unten zugebunden, damit das Paket nicht herausrutschen konnte. So hoch warst du noch nie!, sprach er fast zärtlich zum Inhalt des Pakets. Vor 29 Jahren war Spindler schon einmal auf dem Olperer gewesen. Damals bei Tage. Wer zählt die Gipfel dort oben? Ortler, Glockner, Bernina, und im Süden standen schon die Dolomiten. Das Funkeln der Milchstraße zog sich über den ganzen Himmel, bis es unter ihm am Horizont verschwand. Der Horizont war tiefer als er selbst dort oben auf seiner Speerspitze in die Stratosphäre, wie es ihm vorkam. Er fühlte sich wie neugeboren, nachdem er innerhalb weniger Stunden zweimal dem Tod entronnen war. Er wusste, dass er nicht mehr lang zu leben hätte. Er hatte noch eine Mission zu erfüllen.
    Hätte er nur etwas Zeit gehabt, dann hätte er auf den Sonnenaufgang gewartet. Das wärs gewesen!
Aber du hast keine Zeit. Ein, zwei Stunden hast du sie aufgehalten, mehr nicht.
    Tuxer Ferner, 3085 Meter, 3.03 Uhr
    In Riesensätzen war Clara Fürst über den Gletscher hinabgelaufen. Hätte einmal fast eine Spalte übersehen, die die Pistenraupe nicht komplett mit Schnee zugeschoben hatte. Am Rucksack angekommen, bemerkte sie den einen Felsbrocken, der noch in der Nähe lag. Nun wusste sie, dass er sie hereingelegt hatte. Doch sie musste auf Nummer sicher gehen.
    Unten in Spindlers Rucksack war noch etwas Ersatzwäsche und eine Wasserflasche mit Almdudler verstaut. In den beiden unversehrten Deckeltaschen ein Stück Reepschnur, zwei Bleistifte, Labello, Gletscherbrandcreme, Schmierpapier mit einigen Notizen, ein Müllsack, Verbandszeug, ein aufgerissener Schokoriegel, Kaugummipapier, Zahnbürste, Nagelschere, die Alpenvereinskarte Zillertaler Alpen West. Fürst steckte das Papier mit den Notizen und die Karte ein. Vielleicht enthielt auch die Karte Hinweise. Sie würde beides später untersuchen. Dann zückte sie ihr Telefon und rief eine gespeicherte Nummer an. 90 Sekunden später war sie wieder auf dem Weg nach oben. Wenn nur diese bohrenden Kopfschmerzen nicht wären.
    Olpererhütte, 2389 Meter, 5.50 Uhr
    So schnell war Spindler vor 29 Jahren nicht gewesen. Trotz der Dunkelheit am Riepengrat, trotz des fehlenden Eispickels am Schneegupf, der mit den Steigeisen im hartgefrorenen Firn hinabgeflogen war, und trotz der spärlichen Wegspuren im Blockgelände der alten Gletschermoränen und Bergstürze. Zum Glück wurde es früh hell. Die Hütte lag noch still in der ersten Morgensonne. Alles frisch renoviert. Ein Blick zur Friesenbergscharte hinauf: Von dort sah er niemanden kommen. Beruhigend. Ein zweiter Blick hinauf Richtung Schneegupf am Olperer. Auch dort sah er niemanden. Doch das sagte nicht viel: Das Gelände war extrem unübersichtlich. Keine Kurverwaltung da, die das Chaos der letzten 10 000 Jahre beseitigt hätte. Hinter unzähligen Erhebungen, Moränenresten und haushohen Felsblöcken war es nahezu unmöglich, einen Menschen zu sehen, der nicht gesehen werden wollte.
    Die Hüttentür ging auf. Heraus kam der weiße Schäferhund der Hüttenwirtin. Er schnüffelte zutraulich an der Wade des frühen Gastes.
    »Du hast ein feines Leben hier!«, sagte Spindler zu dem Tier angesichts der großen Terrasse, der Schafweiden und des weiten Blicks hinab zum sich spiegelnden Wasser des Schlegeisspeichers.
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