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Neobooks - Transalp 6

Neobooks - Transalp 6

Titel: Neobooks - Transalp 6
Autoren: Marc Ritter , CUS
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Meter, 22.10 Uhr
    Clara Fürst! Spindler träumte einen dunklen, schweren Traum. Er hatte seine Beinahemörderin auf der Lizumer Hütte ohnmächtig auf ein Matratzenlager gelegt. Bloß kein unnötiges Aufsehen. Den neugierigen Hüttenwirt musste er abwimmeln, indem er ihn um eine Flasche Schnaps »zu Heilzwecken« bat. Die Pistole hatte er ihr weggenommen. Auf dem Ausweis des Biathlon-Leistungszentrums in ihrer Jackentasche stand der Name Clara Fürst. Keine Frage, diese Frau konnte schießen. Und diese Frau konnte laufen. Die Wirkung des Selbstgebrannten vom Hüttenwirt würde nicht ewig vorhalten. Die Richtung, wohin er ging, musste ihr klar sein. Es gab nur einen vernünftigen Weg von der Lizumer Hütte aus nach Süden. Sie würde kommen. Sie würde bald kommen und sie würde schnell sein. Schneller, als er jemals gehen konnte. Er musste aufbrechen, jetzt.
    FREITAG, 13. JULI 2012
Olperer Nordgrat, 3290 Meter, 2.35 Uhr
    Auf den Firnen spiegelte das Mondlicht. Sogar die Masten der Skilifte in der Ferne gewannen in diesem weltfernen Silberschein. Spindler hatte sich in der nachtschlafenden Hütte Eispickel und Steigeisen beschafft. Nach seinem Aufbruch war er über Stunden am Rande der völligen Erschöpfung gewesen. Den Schokoriegel, den er sich weiter unten in den Mund gesteckt hatte, spuckt er wieder aus. Essen – das hieß für einige Sekunden die Luftröhre schließen und keine Luft mehr bekommen. Das schaffte sein Körper nicht mehr. Seit einer halben Stunde jedoch, seit sich der Firn aufsteilte und er über das Gletscherskigebiet hinauskam, ging mit ihm eine wunderbare Verwandlung vor sich: Er war jenseits der Erschöpfung angekommen. Alle Schwere fiel von ihm ab. Er fühlte sich federleicht und hatte das Gefühl, dass er ohne Pause bis zu seinem Ziel durchgehen könnte. Fast wie der Höhenrausch, von dem er in Himalaya-Büchern gelesen hatte. Nur war hier die Luft lange nicht so dünn wie im Himalaya. Etwa ein Drittel der Lufthülle der Erde lag unter ihm. Der Blick reichte über Hunderte von Kilometern.
Wenn du am Meer stehst, dann kannst du sechs oder acht Kilometer weit blicken, bis sich die Erde unter dir wegkrümmt. Hier im Hochgebirge siehst du 150 oder 200 Kilometer in die eine Richtung. In die andere auch.
    Er erreichte den felsigen Blockgrat, der zum Gipfel des Olperer hinaufzog. Er ließ die Steigeisen an, selbst wenn sie über den Fels schnurpsten. Zwischendurch gab es immer wieder eisige Stellen. Oft waren es die Spalten zwischen den Felsblöcken, wo auch das Mondlicht nicht hinkam. Links ging es Hunderte von Metern die Nordflanke hinab. Rechts den steilen Firnhang hinunter zu den Pisten des Sommerskigebiets. Er fühlte die grenzenlose Freiheit. Allein auf sich gestellt, ohne Sicherung. Jeder Schritt musste sitzen, oder es war das Ende. Das alles ohne andere Menschen in der Nähe. Mit ein paar Handbreit Erde unter sich und sonst nur Luft ringsherum. Es war der Tanz auf der Himmelsleiter. Er fühlte sich wie der König der Welt.
    So schön es gewesen wäre, ganz stimmte das freilich nicht, und als er sich umsah, bemerkte er es: Unter ihm war noch ein Mensch, und der stapfte den Firnhang herauf: Das musste Clara Fürst sein. Sie warf einen langen Schatten auf den Schnee. Sie schien fast zu laufen. Unwillkürlich beschleunigte Spindler seine Schritte. Doch er musste jeden Griff und jeden Tritt im fahlen Licht suchen. Wie leicht würde sein Leben durch eine unachtsame Bewegung ausgelöscht. Was blieb ihm übrig? Bald musste sie ihn ohnehin eingeholt haben, wahrscheinlich schon vor dem Gipfel. Als er sich wieder umblickte, war sie stehen geblieben. Sie hielt einen Arm an den Kopf. Telefonierte sie? Forderte sie Verstärkung an? Oder gab sie durch, dass sie ihn gleich hatte? Einige Minuten später war sie auf 50 Meter heran. Sie war die Schnellere, Agilere, Wendigere, keine Frage. Sein Vorteil war, dass er oben war. Sie konnte sich freilich Zeit lassen und den Zeitpunkt des Zupackens selbst bestimmen. In dieser Nacht waren sie allein.
    Clara Fürst war gerade an der Schlüsselstelle des Grates, einem leichten Überhang, der mit Hilfe der angebrachten Eisenklammern zu ersteigen war. Zugriff in drei Minuten! Sie wusste, dass er Tempo machen musste, das er unvorsichtig werden würde in seiner Angst. Die Jagd machte ihr Spaß, das war ihr Elixier. Besonders, wenn sie die Todesangst ihrer Beute spürte. Da hörte sie über sich ein Poltern. Steinschlag? Als sie um die Felskante herum blickte, sah sie einen
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