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Nebenwirkungen

Nebenwirkungen

Titel: Nebenwirkungen
Autoren: Woody Allen
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Kommode. (Er konnte nie an einem Spiegel vorübergehen, ohne einen schnellen Blick hineinzuwerfen, und einmal hatte er in einem Saunaklub so lange auf sein Spiegelbild im Swimmingpool gestarrt, daß die Direktion sich genötigt sah, das Wasser abzulassen.) Es hatte keinen Sinn. Er konnte keinen Menschen erschießen. Er ließ die Pistole fallen und floh.
    Auf der Straße beschloß er, auf einen Brandy ins "La Coupole" zu gehen. Er mochte das "La Coupole", weil es immer hell und voller Menschen war und er normalerweise einen Tisch bekam - ganz im Gegensatz zu seiner Wohnung, wo es dunkel und trübselig war und seine Mutter, die auch dort wohnte, sich beharrlich weigerte, ihm einen Platz anzubieten. Aber an dem Abend war das "La Coupole" brechend voll. Wer sind alle diese Gesichter, fragte sich Cloquet. Sie scheinen zu etwas Abstraktem zu verschwimmen: "Die Leute". Aber es gibt keine Leute, dachte er - nur Individuen. Cloquet hatte das Gefühl, das sei eine brillante Erkenntnis, eine, die er eindrucksvoll auf irgendeiner schicken Dinnerparty loswerden könne. Wegen Äußerungen wie dieser war er seit 1931 zu keiner Geselligkeit mehr eingeladen worden.
    Er beschloß, zu Juliet zu gehen.
    "Hast du ihn getötet?" fragte sie, als er ihre Wohnung betrat.
    "Ja", sagte Cloquet.
    "Bist du sicher, daß er tot ist?"
    "Er schien tot zu sein. Ich brachte meine Maurice-Chevalier-Nummer, die normalerweise großartig ankommt. Diesmal Fehlanzeige."
    "Gut. Dann wird er die Partei nie wieder hintergehen."
    Juliet gehörte zu den Marxisten, das rief Cloquet sich wieder in Erinnerung, obendrein zu den allerinteressantesten Marxisten - denen mit langen, sonnengebräunten Beinen. Sie war eine der wenigen Frauen, die er kannte, die zwei verschiedene Gedanken gleichzeitig im Kopf behalten konnten, zum Beispiel Hegels Dialektik und warum ein Mann, wenn man ihm die Zunge ins Ohr steckt, während er eine Rede hält, sofort wie Jerry Lewis klingt. Sie stand jetzt vor ihm in engem Rock und Bluse, und er wünschte sich, sie zu besitzen - sie so zu besitzen, wie er alle anderen Dinge besaß, sein Radio zum Beispiel oder die Schweinemaske aus Gummi, die er während der Okkupation getragen hatte, um die Nazis zu ärgern.
    Plötzlich wälzten er und Juliet sich im Liebesspiel - oder war es bloß ein Sexspiel? Er wußte, es gab einen Unterschied zwischen Sex und Liebe, aber er war der Meinung, beides sei wundervoll, solange nicht einer der Partner zufällig ein Hummerlätzchen umhatte. Frauen, überlegte er, sind etwas Weiches, das einen umhüllt. Das Dasein ist auch was Weiches, das einen umhüllt. Irgendwann wickelte es einen total ein. Dann kam man nicht wieder raus, es sei denn zu irgendwas wirklich Wichtigem, wie Mutters Geburtstag oder einer Geschworenensitzung. Cloquet dachte oft, es bestehe ein großer Unterschied zwischen dem Sein und dem In-der-Welt-Sein, und er meinte, egal, zu welcher Gruppe er gehöre, die andere amüsiere sich zweifellos besser.
    Nach seinem Liebesdienst schlief er wie üblich gut, aber am nächsten Morgen wurde er zu seiner großen Überraschung wegen Mordes an Gaston Brisseau verhaftet.
    Im Polizeipräsidium beteuerte Cloquet seine Unschuld, man eröffnete ihm jedoch, man habe seine Fingerabdrücke überall in Brisseaus Zimmer und auf der dort sichergestellten Pistole entdeckt. Als Cloquet in Brisseaus Haus eingebrochen war, hatte er außerdem den Fehler begangen, sich ins Gästebuch einzutragen. Es war hoffnungslos. Der Fall war von vornherein klar. Der Prozeß, der die ganze folgende Woche über stattfand, glich einem Zirkus, obwohl es einige Schwierigkeiten bereitete, die Elefanten in den Gerichtssaal zu bekommen. Schließlich erklärten die Geschworenen Cloquet für schuldig, und er wurde zum Tod auf der Guillotine verurteilt. Ein Gnadengesuch wurde wegen eines Formfehlers abgelehnt, als herauskam, daß Cloquets Anwalt es eingereicht hatte, als er einen Pappschnurrbart trug.
    Sechs Wochen später, am Vorabend seiner Hinrichtung, saß Cloquet allein in seiner Zelle, noch immer außerstande, den Ereignissen der vergangenen Monate Glauben zu schenken - besonders der Sache mit den Elefanten im Gerichtssaal. Am nächsten Tag um diese Zeit würde er tot sein. Cloquet hatte an den Tod immer als etwas gedacht, das anderen Leuten widerfuhr. "Ich stelle fest, dicken Menschen geschieht es oft", sagte er zu seinem Anwalt. Cloquet selbst schien der Tod nur eine weitere abstrakte Vorstellung zu sein. Menschen sterben, dachte er,
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