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Nebenwirkungen

Nebenwirkungen

Titel: Nebenwirkungen
Autoren: Woody Allen
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lang bildete er sich ein, er sei wieder ein Kind und daheim an der Riviera, aber als eine Viertelstunde vergangen war und er keine Touristen sah, fiel ihm ein, daß er immer noch hinter Brisseaus Kommode saß. Er ging zum Bett zurück, griff zur Pistole und richtete sie wieder auf den Kopf Brisseaus, aber nach wie vor war er außerstande, den Schuß abzugeben, der das Leben des berüchtigten faschistischen Denunzianten beendet haben würde.
    Gaston Brisseau entstammte einer wohlhabenden, rechtsgerichteten Familie und beschloß schon früh in seinem Leben, Berufsdenunziant zu werden. Als junger Mann nahm er Sprachunterricht, um noch deutlicher denunzieren zu können. Einmal hatte er Cloquet gestanden: "Mein Gott, ich genieße es, über Leute zu tratschen."
    "Und wieso?" fragte Cloquet.
    "Ich weiß nicht. Damit sie sich in die Haare geraten, sich verpetzen."
    Brisseau verpfeift seine Freunde aus bloßem Spaß an der Sache, dachte Cloquet. Ein nicht wiedergutzumachender Frevel! Cloquet hatte einmal einen Algerier gekannt, dem es Freude machte, Leuten einen Klaps auf den Hinterkopf zu geben und dann zu lächeln und es abzustreiten. Es schien, als sei die Welt in gute und böse Menschen aufgeteilt. Die Guten schliefen besser, dachte Cloquet, und die Bösen hatten offenbar viel mehr Freude an den Stunden, die sie wachten.
    Cloquet und Brisseau waren sich vor Jahren unter dramatischen Umständen begegnet. Brisseau hatte sich eines Abends im "Deux Magots" betrunken und war in Richtung Fluß getorkelt. In der Annahme, er sei schon zu Hause in seiner Wohnung, legte er die Kleider ab, aber statt ins Bett zu steigen, stieg er in die Seine. Als er versuchte, sich die Decken über den Kopf zu ziehen und dabei etwas Wasser abkriegte, fing er an zu schreien. Cloquet, der zufällig gerade in dem Moment seinem Toupet über den Pont Neuf nachjagte, hörte einen Schrei aus dem eisigen Wasser. Die Nacht war windig und dunkel, und Cloquet hatte in Sekundenschnelle zu entscheiden, ob er sein Leben aufs Spiel setzen wolle, um einen Unbekannten zu retten. Weil er keine Lust hatte, eine so folgenschwere Entscheidung auf nüchternen Magen zu treffen, ging er in ein Restaurant essen. Von Gewissensbissen geplagt, erstand er dann diverses Angelzeug und ging zurück, um Brisseau aus dem Fluß zu fischen. Zunächst probierte er es mit einer künstlichen Fliege, aber Brisseau war zu schlau, um anzubeißen, und schließlich sah sich Cloquet gezwungen, Brisseau mit einer Offerte kostenloser Tanzstunden ans Ufer zu locken und mit einem Netz an Land zu ziehen. Während Brisseau noch gemessen und gewogen wurde, wurden die beiden Freunde.
    Cloquet trat nun näher an die schlafende, massige Gestalt Brisseaus und hob wieder die Pistole. Ein Schwindelgefühl überkam ihn, als er den tieferen Sinn seiner Tat überdachte. Es war ein existentielles Schwindelgefühl, das durch die unabweisbare Einsicht in die Ungewißheit des Lebens hervorgerufen wurde und nicht mit einem gewöhnlichen Alka-Seltzer zu beheben war. Was hier vonnöten war, das war ein existentielles Alka-Seltzer - ein Präparat, das in vielen Drogerien auf dem linken Seineufer verkauft wurde. Es war eine riesige Pille von der Größe einer Autoradkappe, die, in Wasser aufgelöst, das ekelerregende, von zu viel Einsicht ins Leben ausgelöste Gefühl beseitigte. Cloquet hatte sie auch nach dem Genuß mexikanischen Essens ganz hilfreich gefunden.
    Wenn ich beschließe, Brisseau zu töten, überlegte Cloquet jetzt, dann mache ich mich zum Mörder. Ich werde zu Cloquet, der tötet, statt einfach zu bleiben, was ich bin: Cloquet, der an der Sorbonne Hühnerpsychologie lehrt. Indem ich die Tat auf mich nehme, nehme ich sie für die ganze Menschheit auf mich. Was aber, wenn sich jeder auf der Welt so benähme wie ich und hierherkommt und Brisseau ins Ohr schießt? Das war ein Durcheinander! Ganz zu schweigen vom Lärm der Türklingel, die die ganze Nacht schellt. Und natürlich brauchten wir einen bewachten Parkplatz. Du lieber Gott, wie unschlüssig der Geist ist, wenn er sich moralischen oder ethischen Überlegungen zuwendet! Besser nicht viel denken! Sich mehr auf den Körper verlassen - der Körper ist verläßlicher. Er erscheint zu Verabredungen, sieht in einem Sportsakko gut aus, und wo er wirklich fabelhaft zu gebrauchen ist, das ist, wenn man eine Massage möchte.
    Cloquet fühlte plötzlich das Bedürfnis, sich seiner eigenen Existenz zu versichern, und sah in den Spiegel über Brisseaus
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