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Nebelfront - Hinterm Deich Krimi

Nebelfront - Hinterm Deich Krimi

Titel: Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
Autoren: emons Verlag
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ihm
stehen, drehte sich um und wies in die Richtung, aus der sie gekommen war.
    »Du?«, fragte Vollstedt erstaunt. »Was machst du hier? So früh am
Morgen?«
    »Da«, sagte der Mann. Und wiederholte mehrfach: »Da. Da.«
    »Was ist da, Lenny?«, fragte Vollstedt und musterte ihn neugierig.
    Armin Lennartz war untersetzt, hatte eine stämmige Figur, ohne dass
Muskeln zu erkennen waren. Der Hals war zu kurz, die Proportionen stimmten
nicht. Lenny, wie er von allen genannt wurde, wohnte in der Mommsenstraße, nur
durch einen Zaun vom Friedhof getrennt. Der Mann mit dem Downsyndrom schlüpfte
durch ein Loch in der Einfriedung. Lenny hielt sich, sooft er konnte, auf dem
Gräberfeld auf. Viele Besucher kannten ihn, freuten sich, wenn er freundlich
grüßte, hilfsbereit älteren Menschen die Gießkanne trug und mit ihnen eine
kleine Plauderei begann.
    Vollstedt hätte nicht sagen können, wie viele Jahre er Lenny kannte.
Manchmal half ihm der junge Mann. Jung?, überlegte er. Lenny musste inzwischen
auch die vierzig erreicht haben.
    »Da.« Erneut wies Lenny in die Richtung, aus der er gekommen war.
    »Was ist los, Lenny? Hast du schlecht geschlafen?«
    »Komm mit«, forderte ihn Lenny auf und marschierte zurück. Vollstedt
ließ die Schubkarre auf dem Weg stehen und folgte Lenny auf einem schmalen
Trampelpfad zwischen den Grabstätten. Der führte durch eine Gruppe von
Wacholdern, umrundete mehrere Rhododendren und mündete auf eine Grabreihe am
nächsten Seitenweg.
    »Sieh. Da.« Lenny war stehen geblieben und zeigte auf ein frisch
ausgehobenes Grab.
    Nein. Es war keine neue Grabstelle, sondern eine alte. Vollstedt
blieb wie angewurzelt stehen. Die Erde war samt der Bepflanzung ausgehoben
worden und lag auf dem benachbarten Grab. Vorsichtig trat er näher. Der oder
die Unbekannten hatten sich bis zum Sarg vorgearbeitet und den Deckel eingeschlagen.
Undeutlich waren die verbliebenen Überreste der sterblichen Hülle zu erkennen.
    Vollstedt war der Umgang mit Verstorbenen vertraut. Er hatte auch
die Scheu davor verloren, bei aufgegebenen Grabstätten nach den Resten, die
nach der vereinbarten Verweildauer noch vorhanden waren, zu graben und sie
pietätvoll umzubetten, damit der Platz neu belegt werden konnte. Doch das
Zwischenstadium … er musste einen Würgereflex unterdrücken, zumal der
offene Sarg mit einer Flüssigkeit aufgefüllt war.
    »Komm, Lenny«, sagte er und zog ihn mit sich fort.
    »Was hast du da gemacht?«, fragte Lenny.
    »Ich nicht, mein Junge. Das waren böse Menschen.«
    »Hier gibt es keine bösen Leute. Alle sind nett«, protestierte
Lenny.
    »Ja, mein Junge«, gab ihm Vollstedt recht und legte seinen Arm um
Lennys Schultern.
    Er spürte, dass der Mann vor Aufregung zitterte. Kurz darauf hatten
sie das Gebäude der Friedhofsverwaltung erreicht.
    Im Büro traf Vollstedt auf eine Mitarbeiterin aus der Verwaltung.
    »Ruf mal die Polizei an«, forderte er sie auf.
    »Moin, Henry. Was ist denn mit dir los?«, fragte die Frau
erschrocken. »Wie siehst du denn aus? Ist dir nicht gut?«
    »Nun ruf schon die Polizei an. Die sollen herkommen.«
    Er unterließ es, der Kollegin von seiner Entdeckung zu berichten.
    ***
    Erster Hauptkommissar Christoph Johannes saß an seinem
Schreibtisch in der Husumer Polizeidirektion. Seit acht Jahren war er als
»kommissarischer« Leiter der Kriminalpolizeistelle, wie es umständlich im
Amtsdeutsch hieß, in der nordfriesischen Kreisstadt tätig. Er beugte sich vor
und blätterte in den Berichten, die wesentliche Ereignisse der vergangenen
Nacht aus dem Zuständigkeitsbereich dokumentierten.
    Husum war kein Zentrum intensiver Kriminalität, andererseits aber
auch kein gewaltfreier Raum. Es gab die üblichen Schwerpunkte, an denen die
Kollegen der uniformierten Polizei oft gefordert wurden: die Diskothek im
Gewerbegebiet und die Neustadt. Darüber hinaus beherrschten Delikte, die auch
in allen anderen Regionen der Republik verübt wurden, den Alltag der Polizei,
nur mit dem Unterschied, dass hier vieles geruhsamer und doch einen Hauch
friedlicher ablief. Selbst die Kriminalität schien sich der klaren, weiten
Landschaft mit ihrem rauen, pittoresken Charme und den auf den ersten Blick
zurückhaltend wirkenden, aber sich dann mit Herzlichkeit öffnenden Bewohnern
angepasst zu haben.
    »Schon wieder«, begann er ein Selbstgespräch, als er die Meldung
über mehrere Einbrüche am Stadtweg las. Seit geraumer Zeit beschäftigte sich
seine Dienststelle mit einer Einbruchserie.
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