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Nazigold

Nazigold

Titel: Nazigold
Autoren: Paul Kohl
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und Kinderwagen waren so schwer beladen, dass jeden Augenblick die
Achsen brechen konnten. Sie belagerten den Ort, wurden behelfsmäßig in Hotels,
Villen, Schulen und Gewerbehallen einquartiert.
    Gleichzeitig wurden Tausende von KZ -Häftlingen
in ihren dünnen, blau-weiß gestreiften Drillichanzügen von SS -Wachen durch Mittenwald getrieben. Ausgemergelt,
halb verhungert, halb erfroren und in ihren Holzschuhen konnten sie sich auf
ihrem Todesmarsch aus dem KZ  Dachau Richtung
Österreich kaum noch auf den Beinen halten. Einen Tag lang stand im Bahnhof ein
Zug mit fast zweitausend KZ -Häftlingen aus
Dachau, schwer bewacht von der  SS mit
Hunden. In der Nacht sind die Bewacher dann plötzlich verschwunden, und die
Häftlinge taumelten aus den Güterwaggons, verkrochen sich in Schuppen und
Heustadeln und vegetierten in den umliegenden Wäldern dahin.
    Aus den Lagern befreite Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus
Osteuropa irrten umher und rächten sich an der deutschen Bevölkerung, indem sie
in Villen einbrachen und plünderten.
    Flüchtlinge und Mittenwalder stürmten die Kaufhäuser, raubten alles,
was sie kriegen konnten. Wer seine Wohnung auch nur für kurze Zeit verließ, musste
damit rechnen, dass sie in der Zwischenzeit ausgeräumt wurde. Auch verwahrloste
Jugend- und sogar Kinderbanden aus den aufgelösten Erziehungsanstalten und
Waisenhäusern rotteten sich zusammen, überfielen Menschen auf den Straßen und
plünderten Lebensmittelläden.
    In dem hübschen, von Bomben verschonten Bilderbuchstädtchen
Mittenwald wurde ein geordnetes Leben unmöglich. Es gab keinen Strom, kein Gas
und kein Wasser mehr. Jeder war sich selbst der Nächste, jeder kämpfte ums
Überleben. Kriminalität griff um sich. Raub, Mord und Totschlag wurden zur
Normalität. Dazu war der Ort voller Kinder und Schüler, die durch die
Kinderlandverschickung aus dem zerbombten München hierher in Sicherheit
gebracht worden waren.
    Schließlich rückten die amerikanischen Kampftruppen ein mit ihren
Panzern, Kettenfahrzeugen, Lastwagen und Jeeps mit aufgebauten
Maschinengewehren. Unter ihnen viele schwarze GI s – für die Mittenwalder unfassbar. »Wieso auf oamoi de Näga? So vüi Näga! War
denn Afrika a im Kriag gegn uns?«
    Ihnen folgten die Besatzungstruppen. Sie schufen sich Platz, indem
sie die Hotels, die Villen und Chalets räumten, in denen man die Flüchtlinge,
die ehemaligen Zwangsarbeiter und die aus den KZ s
befreiten Juden untergebracht hatte. Sie mussten woandershin verfrachtet
werden.
    Die Militärregierung verkündete Deklarationen, verfügte strenge
Anordnungen: Ablieferung aller Waffen, Ausgangssperre, Registrierung aller
Einwohner, das Verbot, mit dem Auto, sogar mit dem Fahrrad zu fahren. Auf der
Straße durften sich nicht mehr als vier Personen versammeln.
    Die Amerikaner, immer noch im Feindesland, griffen hart durch. Die
Militärpolizei erschoss auch Zivilisten, wenn sie es für nötig hielt. Menschen
etwa, die sie für flüchtende SS -Männer hielt. Es
waren aber Juden aus dem KZ  Dachau. Sie
hatten ihre gestreifte Häftlingskluft gegen gewendete Uniformen getauscht, die
sie in den Wäldern gefunden hatten.
    Nach und nach beruhigte sich die Lage, die strengen Verordnungen
wurden gelockert, und nun, ein Jahr nach Kriegsende, beginnt man, das Chaos zu
organisieren.
    Gropper steht auf dem Bahnhofplatz und schaut sich um. Das Gebirge
steht noch wie damals: Auf der einen Seite der Karwendel und auf der anderen
Seite der Wetterstein. Als wäre nichts geschehen in der Zwischenzeit.
    Die Sonne strahlt am blauen Himmel und lässt den Ort wie in einem
oberbayerischen Bilderbuch aufleuchten. So kennt man Mittenwald von tausend
Werbefotografien: ein hübsches, buntes Puppendorf. Es ist noch früh am
Vormittag, und die Luft an diesem ersten Junitag ist noch frisch, würzig und
wohltuend.
    Gropper atmet kräftig durch. Er muss sich erst mal erholen von der
Fahrt. Schon beim Halt in Gauting war der Zug aus München völlig überfüllt.
Dicht gedrängt hockten und standen die Menschen in den alten, ratternden
Waggons. Die meisten von ihnen waren auf Hamsterfahrt. In den Gepäcknetzen, auf
den Gängen und zwischen den Bänken war alles vollgepackt mit alten Koffern und
Rucksäcken, prall gefüllt mit Pelzjacken, Anzügen, Schuhen, Stiefeln, auch mit
Schmuck, Silberbesteck und Porzellan. Sie mussten in Kartoffeln, Schinken, Mehl
und Eier umgetauscht werden.
    In Starnberg stieg ein Schub neuer Reisender zu. Auch sie wollten
aufs
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