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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele
Autoren: Britta Strauß
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Tisch warf. „Zwei Tage? Drei Tage?“
    „Bleibe, solange du willst“, antwortete die Stimme. „Es liegt nicht mehr in meiner Hand. Aber bevor du gehst, muss etwas getan werden.“
    Josephine richtete sich auf, als sie Schritte näher kommen hörte. Eine Frau tauchte in der Verandatür auf, deren Alter unmöglich zu bestimmen war. Es war die Schamanin. Jenes Wesen, das sich vor ihren Augen an Nathaniels Kraft genährt und sich so verjüngt hatte. Doch die Jugend ihres Gesichtes war nur oberflächlich. Haut, dünn wie Pergament, zog sich über zerbrechlich wirkende Knochen. Graue Strähnen durchzogen langes Haar, der Gang war der eines müden, alten Menschen und ohne Kraft. Sie trug ein traditionelles, langes Kleid aus Wildleder, dessen einziger Schmuck aus zwei Reihen bunt gefärbter Stachelschweinborsten bestand, die man quer über die Brust aufgestickt hatte.
    „Mein Name ist Absá“, sagte die Frau, während sie etwas in Leder Gewickeltes umklammert hielt. „Ich weiß, dass du mich kennst. Ich habe dich in den Wald gelockt, damit du siehst, was er ist. Und was ich bin.“
    Josephine hielt die Decke schützend vor ihre Brust. Im Hintergrund sah sie Nathaniels starres Gesicht, dessen Schrecken sie hochfahren ließ. Was immer diese Frau vorhatte, es schien ihn mit blankem Entsetzen zu erfüllen. Absá schlug das Lederbündel auf und zog ein Messer hervor. Makellos blitzte die lange Klinge im Schein des Lichtes, das aus dem Wohnzimmer drang. Schmerz und Tod versprechend. Absá lächelte. Sie wankte auf Josephine zu, gemächlich, als wüsste sie um die Lähmung, die ihr Opfer erfüllte.
    Nathaniel sank hilflos in die Knie, blanken Zorn in den Augen. Josephine begriff, dass er ihr nicht helfen konnte. Er stand unter dem Bann der Schamanin und musste ihr gehorchen. Sie wollte sich bewegen, wollte aufspringen. Doch ihr Körper wurde wie von einer Last nach unten gedrückt. War es dieselbe Macht, die auch ihn gefangen hielt?
    „Ich bin müde“, sagte Absá. „So müde, wie du es dir niemals vorstellen kannst.“
    Sie griff nach ihrer Schulter, und Josephine gelang es nicht einmal, vor dieser Berührung zurückzuweichen. Finger krallten sich in ihr Haar und legten sich auf ihre Brust. Zogen ihren Kopf zurück, drückten sie zu Boden. In den gebrechlichen Gliedern derSchamanin lag eine Kraft, gegen die sie nichts ausrichten konnte. Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle, und plötzlich war Absá über ihr, das Messer hoch erhoben.
    Josephines Blick streifte Nathaniel, der sich mit aller Wut gegen unsichtbare Fesseln warf und doch nichts ausrichten konnte. Alles war verloren. Sie würde ihn verlieren, diesmal endgültig. Sie würde ihn allein lassen. Warum nur, nach allem, was sie durchgestanden hatten? Warum hatte das Schicksal sie gerettet, wenn sie nun doch sterben würde?
    Das Messer stieß herab und drang in ihre Brust. Josephine fühlte einen kurzen, gewaltigen Schmerz, als Absá die Klinge hinauszog, und dann war alles, was sie noch spürte, das warme, sprudelnde Gefühl hinausschießenden Blutes. Es rann auf das Holz der Veranda und sickerte in ihren Brustkorb. Ein schwarzer Schleier zog sich vor ihr Gesichtsfeld, gerade, als sie zu spüren begann, wie das Blut ihre Lungen füllte und ihren Atem erstickte. Ein ferner Schrei erklang. Nathaniels Schrei. Sie hatte diesen Laut schon einmal gehört, doch diesmal war es ihr Name, der klagend verhallte. Trauer übermannte die letzten, wachen Momente. Unendliche Trauer. Doch die Schwärze war gnadenlos. Sie griff nach ihr und zog sie hinab, tief hinab in einen Abgrund, der endgültig war.
    „Alles, was von ihr übrig blieb, ist mit dem Wind gegangen.“
    Eine ihr vertraute Stimme hallte durch das Dunkel. Warm und samtig. Sie spürte zwei Arme, die sie umfangen hielten. Ihr Kopf ruhte in jemandes Schoß. „Ich habe mich immer gefragt, wie alt sie ist. Es müssen Jahrtausende gewesen sein. Keine Asche blieb übrig, die ich in das Kanu hätte legen können. Aber gibt es etwas Schöneres, als einfach vom Wind verweht zu werden?“
    Josephine spürte mit eigenartiger Befremdlichkeit, wie ihr Körper nach Atem rang. Ohne es bewusst zu entscheiden, öffnete sie die Augen, blinzelte und sah in ein verschwommenes Gesicht hinauf. Wie schön es war. Wie vertraut. Ewig wollte sie es ansehen. Ewig hier liegen, gehüllt in zeitlose Dämmerung. Nathaniel war ihr so nah, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte. Atem? Spüren? Sie lebte noch?
    Josephine tastete nach ihrer
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