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Nathan der Weise

Nathan der Weise

Titel: Nathan der Weise
Autoren: Textausgabe + Lektüreschlüssel
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gern.
    NATHAN .                                                Wie? weil
    Es ganz natürlich, ganz alltäglich klänge,
    Wenn dich ein eigentlicher Tempelherr
    Gerettet hätte: sollt es darum weniger
    Ein Wunder sein? – Der Wunder höchstes ist,
    Dass uns die wahren, echten Wunder so
    Alltäglich werden können, werden sollen.
    220
    Ohn dieses allgemeine Wunder, hätte
    Ein Denkender wohl schwerlich Wunder je
    Genannt, was Kindern bloß so heißen müsste,
    Die gaffend nur das Ungewöhnlichste,
    Das Neuste nur verfolgen.
    DAJA
(zu Nathan)
.                   Wollt Ihr denn
    Ihr ohnedem schon überspanntes Hirn
    Durch solcherlei Subtilitäten ganz
    Zersprengen?
    NATHAN .         Lass mich! – Meiner Recha wär
    Es Wunders nicht genug, dass sie ein
Mensch
    Gerettet, welchen selbst kein kleines Wunder
    230
    Erst retten müssen? Ja, kein kleines Wunder!
    Denn wer hat schon gehört, dass Saladin
    Je eines Tempelherrn verschont? dass je
    Ein Tempelherr von ihm verschont zu werden
    Verlangt? gehofft? ihm je für seine Freiheit
    Mehr als den ledern Gurt geboten, der
    Sein Eisen schleppt; und höchstens seinen Dolch ?
    RECHA . Das schließt für mich, mein Vater. – Darum eben
    War das kein Tempelherr; er schien es nur. –
    Kömmt kein gefangner Tempelherr je anders
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    Als zum gewissen Tode nach Jerusalem;
    Geht keiner in Jerusalem so frei
    Umher: wie hätte mich des Nachts freiwillig
    Denn einer retten können?
    NATHAN .                                      Sieh! wie sinnreich.
    Jetzt, Daja, nimm das Wort. Ich hab es ja
    Von dir, dass er gefangen hergeschickt
    Ist worden. Ohne Zweifel weißt du mehr.
    DAJA . Nun ja. – So sagt man freilich; – doch man sagt
    Zugleich, dass Saladin den Tempelherrn
    Begnadigt, weil er seiner Brüder einem,
    250
    Den er besonders lieb gehabt, so ähnlich sehe.
    Doch da es viele zwanzig Jahre her,
    Dass dieser Bruder nicht mehr lebt, – er hieß,
    Ich weiß nicht wie; – er blieb, ich weiß nicht wo: –
    So klingt das ja so gar – so gar unglaublich,
    Dass an der ganzen Sache wohl nichts ist.
    NATHAN . Ei, Daja! Warum wäre denn das so
    Unglaublich? Doch wohl nicht – wie’s wohl geschieht –
    Um lieber etwas noch Unglaublichers
    Zu glauben? – Warum hätte Saladin,
    260
    Der sein Geschwister insgesamt so liebt,
    In jüngern Jahren einen Bruder nicht
    Noch ganz besonders lieben können? – Pflegen
    Sich zwei Gesichter nicht zu ähneln? – Ist
    Ein alter Eindruck ein verlorner? – Wirkt
    Das Nämliche nicht mehr das Nämliche?
    Seit wenn? – Wo steckt hier das Unglaubliche? –
    Ei freilich, weise Daja, wär’s für dich
    Kein Wunder mehr; und
deine
Wunder nur
    Bedürf … verdienen, will ich sagen, Glauben.
    DAJA . Ihr spottet.
    270
    NATHAN .                Weil du meiner spottest. – Doch
    Auch so noch, Recha, bleibet deine Rettung
    Ein Wunder, dem nur möglich, der die strengsten
    Entschlüsse, die unbändigsten Entwürfe
    Der Könige, sein Spiel – wenn nicht sein Spott –
    Gern an den schwächsten Fäden lenkt.
    RECHA .                                                          Mein Vater!
    Mein Vater, wenn ich irr, Ihr wisst, ich irre
    Nicht gern.
    NATHAN .          Vielmehr, du lässt dich gern belehren. –
    Sieh! eine Stirn, so oder so gewölbt;
    Der Rücken einer Nase, so vielmehr
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    Als so geführet; Augenbraunen, die
    Auf einem scharfen oder stumpfen Knochen
    So oder so sich schlängeln; eine Linie,
    Ein Bug , ein Winkel, eine Falt’, ein Mal,
    Ein Nichts, auf eines wilden Europäers
    Gesicht: – und du entkömmst dem Feu’r, in Asien!
    Das wär kein Wunder, wundersücht’ges Volk?
    Warum bemüht ihr denn noch einen Engel?
    DAJA . Was schadet’s – Nathan, wenn ich sprechen darf –
    Bei alledem, von einem Engel lieber
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    Als einem Menschen sich gerettet denken?
    Fühlt man der ersten unbegreiflichen
    Ursache seiner Rettung nicht sich so
    Viel näher?
    NATHAN .          Stolz! und nichts als Stolz! Der Topf
    Von Eisen will mit einer silbern Zange
    Gern aus der Glut gehoben sein, um selbst
    Ein Topf von Silber sich zu dünken. – Pah! –
    Und was es schadet, fragst du? was es schadet?
    Was hilft es? dürft ich nur hinwieder fragen. –
    Denn dein »Sich Gott um so viel näher fühlen«,
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    Ist Unsinn oder Gotteslästerung. –
    Allein es schadet; ja, es
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