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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman
Autoren: dtv
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nackt, völlig und gänzlich nackt.
    Andere Länder, andere Sitten, dachte Reynevan, wie interessant ist es doch, Länder und Leute kennen zu lernen. Die Schlesierinnen und die Deutschen zum Beispiel erlauben einem nie, wenn es zur Sache geht, das Hemd höher als bis zum Bauchnabelzu lüpfen. Die Polinnen und die Böhminnen ziehen es sich selbst, und sogar gern, bis über die Brust hinauf, würden sich aber um nichts auf der Welt ganz ausziehen. Die Burgunderinnen hingegen   – oh! werfen sofort alles ab, ihr heißes Blut duldet anscheinend beim Liebestaumel kein Fetzchen Stoff auf der Haut. Ach, welch ein Glück ist es doch, die Welt kennen zu lernen. Burgund muss gewiss sehr schön sein. Herrliche Landschaften muss es dort geben. Aufstrebende Berge . . . Steile Hügel . . . Täler . . .
    »Ach, aaach,
mon amour
«, stöhnte Adele von Sterz, sich mit ihrer ganzen burgundischen Landschaft nach Reynevans Händen sehnend.
    Reynevan, unter uns gesagt, zählte erst dreiundzwanzig Lenze und hatte noch nicht eben viel von der Welt erfahren. Er kannte einige wenige Böhminnen, noch weniger Schlesierinnen und Deutsche, eine Polin, eine Zigeunerin, und was andere Völkerschaften anlangte, so hatte er nur einmal von einer Ungarin einen Korb bekommen. Seine erotischen Erfahrungen, wenngleich von vielversprechendem Anfang, konnten wohl mit keinerlei Maß gemessen werden und waren, ehrlich gesagt, sowohl nach Anzahl wie auch nach Qualität ziemlich dürftig. Aber auch so erfüllten sie ihn mit Stolz und Genugtuung. Reynevan hielt sich   – wie jeder heißblütige Jüngling   – für einen großen Verführer und Experten in Sachen Liebe, für den das weibliche Geschlecht keine Geheimnisse birgt. In Wahrheit verhielt es sich so, dass die bisherigen elf Begegnungen mit Adele von Sterz Reynevan mehr über die
ars amandi
gelehrt hatten als sein dreijähriges Studium in Prag. Reynevan bekam nicht einmal mit, dass Adele ihn etwas lehrte   – so sicher war er sich, dass sein angeborenes Talent hier eine große Rolle spielte.
    Ad te levavi oculos meos
    qui habitas in caelis.
    Ecce sicut oculi servorum
    ad manum dominorum suorum
    sicut oculi ancillae in manibus dominae suae
    ita oculi nostri ad Dominum Deum nostrum,
    donec misereatur nostri.
    Miserere nostri Domine . . .
    Adele packte Reynevan am Nacken und zog ihn zu sich herunter. Reynevan griff sich, was sich gehörte und liebte sie. Er liebte sie heftig und eindringlich   – und, als wäre damit noch nicht genug getan   – flüsterte ihr seine Liebesbekundungen ins Ohr. Er war glücklich. Sehr glücklich.
     
    Das Glück, das er in vollen Zügen genoss, verdankte Reynevan   – mittelbar, versteht sich   – einem Heiligen des Herrn. Das hatte sich so zugetragen:
    Reue für seine Sünden verspürend, die nur sein Beichtvater kannte, hatte sich der schlesische Ritter Gelfrad von Sterz auf Pilgerfahrt zum Grabe des heiligen Jakob begeben. Aber unterwegs änderte er seinen Plan. Er gelangte zu der Ansicht, dass es nach Santiago de Compostela entschieden zu weit sei, und da der heilige Ägidius auch nicht von schlechten Eltern war, würde eine Wallfahrt nach St. Gilles vollauf genügen. Aber Gelfrad war es auch nicht gegeben, bis nach St. Gilles zu gelangen. Er kam gerade bis nach Dijon, wo er durch Zufall eine sechzehnjährige Burgunderin, die reizende Adele de Beauvoisin, kennen lernte. Adele, die Gelfrad ganz und gar bezauberte, war eine Waise, die zwei leichtfertige und sittenlose Brüder hatte, die ohne viel Federlesens ihre Schwester dem schlesischen Ritter zur Ehe gaben. Obwohl Schlesien der Vorstellung der Brüder zufolge irgendwo zwischen Euphrat und Tigris lag, war Sterz in ihren Augen der ideale Schwager, der denn auch nicht sonderlich hartnäckig um die Mitgift stritt. Auf diese Weise war die Burgunderin nach Heinrichsdorf gelangt, einem Dorf bei Münsterberg, das Gelfrad als Erblehen erhalten hatte. In Münsterberg wiederum war sie, nun schon Adele von Sterz, Reynevan von Bielau ins Auge gestochen. Was auf Gegenseitigkeit beruhte.
    »Aaaach!«, schrie Adele von Sterz und umklammerte mit ihren Beinen Reynevans Rücken. »Aaaa-aaach!«
    Nie im Leben wäre es zu diesen Achs gekommen, und alles wäre bei verstohlenen Blicken und heimlichen Gesten geblieben, wäre da nicht ein dritter Heiliger gewesen, nämlich der heilige Georg. Auf ihn nämlich hatte Gelfrad von Sterz einen heiligen Eid geleistet, ähnlich wie die übrigen Kreuzfahrer, als er sich im September 1422
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