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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman
Autoren: dtv
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schnell. Der Weltuntergang war, wie gesagt, nicht gekommen. Obwohl vieles darauf hindeutete, dass er kommen würde. Denn es gab   – genauso, wie die Prophezeiungen es wollten   – große Kriege und große Plagen für das Christenvolk, und viele Männer starben. Es schien, als wolle Gott selbst, dass der Entstehung einer neuen Ordnung der Niedergang der alten vorausginge. Es schien, als nahte die Apokalypse. Als käme die Bestie mit zehn Hörnern aus der Hölle. Als sähe man die vier Reiter im Rauchder Brände und der blutgetränkten Felder. Als ertönten jeden Augenblick die Trompeten und die Siegel würden zerbrochen. Als würde Feuer vom Himmel fallen. Als würde der Stern Wermut auf den dritten Teil der Ströme und auf die Quellen der Wasser fallen. Als würde der irre gewordene Mensch, der die Fußspuren eines anderen auf der Brandstätte erblickte, unter Tränen jene Spuren küssen.
    Manchmal war es so schlimm, dass einem, ich bitte um Vergebung, edle Herren, der Arsch auf Grundeis ging.
    Das war eine bedrohliche Zeit. Eine böse. Und wenn es Euer Wille ist, so werde ich davon erzählen. Um die Langeweile zu vertreiben, solange der Regen, der uns hier in der Schenke festhält, nicht aufhört.
    Ich erzähle, wenn Ihr wollt, von jenen Zeiten. Von den Menschen, die damals lebten, wie auch von jenen, die damals lebten, aber keine Menschen waren. Ich erzähle davon, wie die einen, wie die anderen sich mit dem maßen, was die Zeit ihnen brachte. Mit ihrem Schicksal. Und mit sich selbst.
    Diese Geschichte beginnt freundlich und ergötzlich, undurchsichtig und zärtlich   – mit einer angenehmen, innigen Liebe. Aber das soll Euch, liebwerte Herren, nicht täuschen.
    Lasst Euch dadurch nicht täuschen.

Erstes Kapitel
    in dem es dem Leser vergönnt ist, Reinmar von Bielau kennen zu lernen, genannt Reynevan, und dies sogleich von seiner besten Seite, wozu eine geläufige Kenntnis der ars amandi, der Geheimnisse der Reitkunst und des Alten Testaments zu zählen sind, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. In diesem Kapitel ist auch von Burgund die Rede, im weiteren, wie auch im engeren Sinne.
    D urch das offene Kammerfenster erblickte man vor dem dunklen Hintergrund des Himmels, über den eben noch ein Gewitter gezogen war, drei Türme   – den Rathausturm, der am nächsten stand, etwas weiter entfernt den schlanken, mit seinen neuen roten Dachziegeln in der Sonne funkelnden Turm der St.-Johannis-Kirche und dahinter den rundlichen des Fürstenschlosses. Um den Kirchturm jagten die Schwalben, aufgescheucht vom eben verklungenen Geläut der Glocken. Die Glocken waren schon vor einer guten Weile verstummt, aber die ozongeschwängerte Luft schien immer noch von ihrem Klang zu vibrieren.
    Vor wenigen Augenblicken hatte es auch von den Türmen der Liebfrauenkirche und der Fronleichnamskirche geläutet. Diese aber waren von dem Kammerfenster im Dachgeschoss des hölzernen Anbaus, der wie ein Schwalbennest am Gebäudekomplex des Hospitals und Klosters der Augustiner klebte, nicht auszumachen.
    Es war die Zeit der Sexta. Die Mönche hatten ihr
Deus in adjutorium
begonnen. Reinmar von Bielau, den seine Freunde Reynevan nannten, drückte einen Kuss auf das schweißnasse Schlüsselbein der Adele von Sterz, befreite sich aus ihrerUmarmung und lag schwer atmend neben ihr auf dem von der Liebe dampfenden Laken.
    Von jenseits der Mauer, von der Klostergasse her, drang Geschrei, Wagenrollen, das dumpfe Gepolter leerer Fässer und der helle Klang von Zinn- und Kupfergeschirr herauf. Es war Mittwoch, Markttag also, der wie immer zahlreiche Händler und Kauflustige nach Oels brachte.
    Memento, salutis auctor,
    quod nostri quondam corporis,
    ex illibata virgine
    nascendo, formam sumpseris.
    Maria mater gratiae,
    mater misericordiae, tu nos ab hoste protege,
    et hora mortis suscipe . . .
    Sie singen schon die Hymne, dachte Reynevan und umfasste mit einer trägen Bewegung die aus dem fernen Burgund stammende Adele, das Eheweib des Ritters Gelfrad von Sterz.
    Schon die Hymne. Unglaublich, wie schnell Momente des Glücks die Zeit verstreichen lassen. Man wünschte, dass sie ewig währten, und sie entschwinden einem flüchtigen Traume gleich . . .
    »Reynevan . . .
Mon amour . . .
Mein göttlicher Jüngling . . .«, unterbrach Adele wild und verlangend seine Halbschlafträumereien. Auch sie war sich der verrinnenden Zeit bewusst, dachte aber keineswegs daran, sie an philosophische Überlegungen zu verschwenden.
     
    Adele war
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