Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narr

Narr

Titel: Narr
Autoren: Schilddorfer und Weiss
Vom Netzwerk:
sich auf Dutzenden Ausfahrten eingeprägt, wie Tausende von Motorradfahrern aus Wien in den letzten dreißig Jahren. Der Exelberg war die Hausstrecke nach Westen hinaus, die Kehren in das Donautal hinab der Ursprung von Legenden und der Schauplatz von unzähligen inoffiziellen Zweikämpfen. In den frühen Siebzigerjahren hatten die Ausfahrten des »Triumph-Klubs« immer in erbitterte Rennen ausgeartet. Der Rettungswagen, der gewohnheitsmäßig an allen Wochenenden die Biker begleitete, kam selten unbelegt nach Hause. Es waren die wilden Jahre gewesen, wo man sich auf den ersten Kawasakis und Hondas mit den englischen Nortons oder Triumphs um die Vorherrschaft auf der Straße und die schnelleren Streckenzeiten duellierte. Wer als Erster bremste, hatte schon verloren. Manche bremsten nur selten und wenn, dann immer zu spät …
    Mein Gott, das ist so lange her, ging es Wagner durch den Kopf, als er die Honda hochschaltete und voll beschleunigte. Wie ein Tänzer auf einer dünnen Linie führte er das Motorrad mit viel Gefühl an der Rutschgrenze des Hinterreifens entlang die Bergstraße hinunter. Er war eins mit der Maschine, spürte den Vierzylinder und sah die Sekunden wegticken, raste in einem Tunnel aus Licht durch die warme Nacht und spürte, wie ihm die Schweißtropfen unter der Lederjacke den Rücken hinunterrannen. Der Wind brachte kaum Kühlung, die Nadel des Drehzahlmessers schnellte über die 12000er-Marke und Paul war versucht, vor Lebensfreude einfach laut loszuschreien. Das waren die Momente, in denen er dem Leben so nahe war wie sonst nie. Ebenso wie dem Tod.
    Die nächste Kehre flog auf ihn zu, der Asphalt war zum Greifen nahe und auf einigen kleinen Steinen rutschte der Hinterreifen kurz weg, die Honda fing sich wieder und Wagner beschleunigte erneut voll den Berg hinunter. Die gelben Sekunden tickten und Paul lächelte zufrieden. Bei der Halbzeitmarke war er zwei Sekunden schneller als das letzte Mal.
    Vielleicht hat sich doch nicht so viel verändert, dachte er sich und sah die Tafel der Geschwindigkeitsbeschränkung mit der Zahl 50 an sich vorbeifliegen. »Die sollten endlich einen Einser davormalen«, murmelte er in seinen Helm und konzentrierte sich auf die nächste Kehre. Er schaltete vier Gänge hinunter, mit schnellem Zwischengas, und die Verzögerung der Bremsen drückte ihn auf den Tank. Die Honda blieb eisern in der Spur und Paul wich keinen Zentimeter von der Ideallinie, zog durch die Kurve und das Vorderrad der CBR hob sich einige Zentimeter, als er wieder herausbeschleunigte. Der Schub des Vierzylinders wollte nicht enden, die Straße schien immer schmaler zu werden, die nächste Kurve tauchte im Licht auf, umgeben von einer grünen Wand aus Gebüsch und dahinter die Endlosigkeit des dunklen Donautals. Der Nachtflug ging immer weiter den Berg hinunter, wie im Zeitraffer in einem Film, der gefährlich real war. Paul war auf dem Weg zu einer neuen persönlichen Bestzeit, als plötzlich eine rote Lampe im Cockpit regelmäßig zu blinken begann.
    »Wer zum Teufel …«, fluchte Wagner und richtete sich hinter der Verkleidung auf, wollte es nicht glauben und schaute ein zweites Mal hin. Die Lampe hörte nicht auf zu blinken. Er bremste die Rennmaschine ab und rollte auf einen kleinen Parkplatz, der in einer der Kehren eingerichtet worden war. Als er den Zündschlüssel umdrehte, der Motor verstummte und die Scheinwerfer erloschen, war es stockdunkel und totenstill. Nur der Motor und der Auspuff knackten leise. Wagner zog den Helm vom Kopf und das Handy aus seiner Lederjacke. Die Lampe im Cockpit hörte auf zu blinken, als er das Gespräch seufzend annahm.
    »Herr Professor, du hast mich mit deinem unglaublichen Gespür für den richtigen Zeitpunkt gerade die Bestzeit gekostet«, stieß er vorwurfsvoll hervor und holte tief Luft. »Schläfst du nicht? Hast du um diese Uhrzeit keine bessere Beschäftigung, als mit mir zu telefonieren? Wie etwa Arbeiten deiner Studenten in Grund und Boden zu verbessern, mittelalterliche Kreuzworträtsel zu lösen oder Ähnliches?«
    »Ich glaube, du solltest schnellstens hierherkommen«, meinte die Stimme am anderen Ende der Leitung und Paul konnte die Anspannung plötzlich körperlich spüren. Sie schien zu knistern und sich wie eine Flamme durch Löschpapier zu fressen. »Ich bin in Nussdorf ob der Traisen. Folg einfach der Hauptstraße bergauf bis zum Ende. Ich warte auf dich vor dem weißen Bauernhaus.«
    »Gib mir zwanzig Minuten, ich bin gar nicht weit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher