Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narr

Narr

Titel: Narr
Autoren: Schilddorfer und Weiss
Vom Netzwerk:
Tisches gegenüber, vor ihnen eine bauchige grüne Weinflasche, die schon fast leer war. Der ältere der beiden, sein Gesicht dem Fenster zugewandt, musste über siebzig sein und machte einen nervösen und gleichzeitig müden Eindruck. Seine unstetig hin und her gleitenden Hände schoben das volle Rotweinglas vor sich im Zickzack über die Tischplatte, einem undefinierbaren Muster folgend, während er leise und manchmal zögernd sprach. Die üppigen, weißen Haare waren zerzaust und standen in alle Richtungen ab, verliehen ihm einen leicht anarchistischen, vernachlässigten und zugleich ungebändigten Eindruck. Seine hellen Augen jedoch blickten freundlich und nachsichtig auf sein Gegenüber. Das runde, von der Sonne gebräunte Gesicht hatte kaum Falten, und wären nicht die zahlreichen Altersflecken gewesen, die wie große Sommersprossen von einer verschwenderischen Hand verteilt seine Züge übersäten, man hätte ihn für gut fünfzehn Jahre jünger gehalten.
    Der jüngere Mann ihm gegenüber saß mit dem Rücken zum Fenster. Seine dunklen, von einzelnen grauen Strähnen durchzogenen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Er hatte breite Schultern und die Art, wie er sich auf den Tisch lehnte und sein Glas zwischen den Fingern drehte, verriet kaum etwas von seiner Aufregung. Er blickte den alten Mann auf der anderen Seite des Tisches nachdenklich an. Diesen Besuch hatte er lange vor sich hergeschoben, viel zu lange. Erst war er sich wie damals vorgekommen, in den überfüllten Hörsälen, den endlosen Proseminaren, mit den harten Sitzbänken und einer Atmosphäre aus Bohnerwachs und Angstschweiß, die sich in den ehrwürdigen Räumen seit Generationen festgesetzt hatte. In seiner Erinnerung stand er wieder und wieder aufgeregt vor der Prüfungskommission, und Professor Kirschner, der gefürchtete und geachtete Doyen der Fakultät, betrachtete ihn mit einem Blick, der irgendwo zwischen Herablassung und unendlicher Weisheit schwankte.
    Doch heute Abend hatte das Gefühl der Anspannung und Beklemmung schneller nachgelassen, als er es vermutet hätte. Je länger der Besuch gedauert hatte, umso mehr war die Nervosität einer Zuneigung und einem Verständnis gewichen, die offenbar schon lange in ihm geschlummert hatten.
    Musik und Lachen kamen aus der Ferne, gedämpft durch die warme Nachtluft. Auf dem kurz gemähten Rasenplatz hinter dem Rathaus des kleinen Weinbauernortes lag der Mittelpunkt des alljährlichen Keller- und Erntedankfestes und vor einer niedrigen Bühne, auf der eine dreiköpfige Gruppe schamlos ihre Instrumente quälte, machten einige Paare undefinierbare Schritte über schnell zusammengefügte, rohe Holzbretter. Die meisten Besucher jedoch zogen von Weinkeller zu Weinkeller, angelockt von den großzügig verteilten Gratis-Kostproben. Alle Winzer waren stolz darauf, ihre besten Weine vorzustellen, und manche Besucher kamen deswegen sogar aus dem achtzig Kilometer entfernten Wien.
    Zwei Polizisten warteten in sicherer Entfernung an der einzigen Ausfallstraße, ausgerüstet mit genügend Teströhrchen, auf das Unvermeidliche. Die drei Männer in Schwarz hatten sie beim Vorbeifahren aus dem Wagen heraus gesehen, als sie ihre Polizeikontrolle aufbauten, und hatten keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet.
    »Du kannst ruhig hier schlafen, Georg, das Haus ist groß genug«, meinte der alte Mann nach einem langen Schweigen und nahm einen Schluck Rotwein. »Wir könnten noch ein paar Weinkeller heimsuchen und die Winzer schädigen.«
    Der Angesprochene lächelte, hielt die fast leere Zweiliterflasche wie zur Bestätigung schräg gegen das Licht der alten Deckenlampe und winkte ab. »Ich glaube, wir haben für heute genug. Ich wollte Ihnen endlich den lange versprochenen Besuch abstatten und nicht Ihren Weinvorrat vernichten, Professor.« Er fühlte sich wohler bei dem Abstand, den das »Sie« mit sich brachte. Mit einem Mann, den man jahrelang gefürchtet und respektiert hatte, von dem das Wohl oder Wehe in den ersten Jahren des Studiums abgehangen hatte, mit dem war man nicht nach vier Stunden per »Du«. Auch nicht, wenn fast fünfzehn Jahre vergangen waren.
    Das Liebespaar, das eng umschlungen durch den Obstgarten auf das Haus zuschlenderte, achtete sorgsam darauf, nicht in den Lichtschein des Fensters zu gelangen. Die drei Männer an der Hauswand sahen alarmiert zu, wie die beiden jungen Leute sich küssten und dann im hohen Gras unter einem der Pfirsichbäume verschwanden. Als zwei der Männer fragend
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher