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Nachtpfade

Nachtpfade

Titel: Nachtpfade
Autoren: N Förg
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so
trist gewesen? Hatte es dieses Haus in Blau gegeben, das aussah, als wäre man
in Griechenland gelandet? Da war das Schild »Kusterer«. Gerhard musste kurz
grinsen, denn der Sohn des Hauses war damals in seiner Clique gewesen, und
dessen Auftritte auf den legendären Pyjamabällen im Pegasus gehörten zu jenen
Geschichten, die man später den Enkeln erzählt. Erzählen würde, denn Gerhard
bezweifelte, es jemals zu Enkeln zu bringen. War das nun Wehmut?
    Evi hatte die Adresse »Im Thingers« erreicht. Ja,
höher lag das Thingers vielleicht, aber die Tristesse der Wohnblocks fiel ihm
heute weit stärker auf als damals, als er zu Karin in den Amselweg gefahren
war. Karin mit ihrem Zimmer in der Dachschräge, das komplett holzgetäfelt
gewesen war, wie eine Sauna. Im Sommer hatten die Temperaturen auch im saunaheißen
Bereich gelegen, schwüle Sommer, Schweißperlen, Asti und Apfelkorn, die perfekt
gebauten Tüten, deren Geruch vom Balkon Richtung Mariaberg gezogen war.
Pavlov’s Dog, Lake, REO Speedwagon, Keep the fire burnin’ … LP s
und Kassetten, deren Innenleben sich spätestens nach einem Monat wie ein großer
Haufen schwarzer Spaghetti am Boden geringelt hatte. Jetzt aber Schluss mit
Wehmut! Also – falls es das war. Gerhard straffte die Schultern, als Evi
geparkt hatte. »Dann wollen wir mal!«
    Sie gingen auf den Mix aus Lebensmittelmarkt, Bistro
und Bürgerzentrum zu. Zwei türkische Jungs brüllten sich an, eine alte Frau mit
Gehwagen und leerem Blick überquerte den Platz: alle Schattierungen von Grau,
die Morbidität von Beton. Im Hauseingang roch es nach Sauerkraut. Im zweiten
Stock kümmerte eine Pflanze vor sich hin, sie klingelten im dritten. Mehrmals.
So lange, bis jemand aus der Nachbarwohnung den Kopf herausstreckte. Frau
Jemand im Kittelschurz über laufmaschiger Seidenstrumpfhose.
    »Dia söttet scho do sei. I hon se gsäha, wia se
reikomma sind.«
    »Ja, schön, dann läuten wir doch nochmals.« Evi
flötete regelrecht.
    »Was wend Se von deane?«
    »Liebe Frau …«
    Gerhard spechtete zur Türglocke.
    »… Holzapfel. Des lasset dir doch uifach mei Sorg sei,
fei meh.«
    Sie starrte ihn an.
    »Zruck in dia Wohnung. Ja wirds allat bald!« Er
wedelte mit der Hand, und die völlig konsternierte Frau Holzapfel zog die Tür
zu.
    Evi gluckste. »Die Sprache des Landes, was? Wetten,
die klebt jetzt am Türspion?«
    »Lass sie kleben!« Gerhard läutete nochmals an der
Nachbarwohnung, auf deren Türschild »Paulig/Bodenmüller« stand. Dann pumperte
er ordentlich dagegen, bis plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein gewaltig
großer Kerl den Türrahmen füllte. Er war fast zwei Meter groß, korpulent, sein
T-Shirt bedeckte seine Wampe nur unzureichend, die Bermudas waren unterhalb
derselben verankert. Der Mann hatte einen graubraunen Vollbart.
    »Ja, ihr Saukripel, ihr greißlichn, hert sich des etzt
amol auf mit …« Er stockte, als er Gerhard und Evi sah.
    »Herr Bodenmüller?«, fragte Gerhard.
    »Ja, wer sonscht?«
    Gerhard ignorierte ihn. »Wir würden gerne Frau Paulig
sprechen.«
    »Wegs was?«
    »Das würden wir ihr gerne selber sagen.«
    »Ach schleichts eich doch. Zeitschrifta oder Zeugen
Jehovas oder was? Mir brauchet nix«, brummte Bodenmüller.
    Gleichzeitig zogen Gerhard und Evi ihre Polizeimarken
heraus. »Herr Bodenmüller, wir würden jetzt sehr gerne Frau Paulig sprechen und
dazu auch überaus gerne den Treppenaufgang verlassen.« In Gerhards Stimme lag
ein unerfreulicher Unterton.
    Der Riese Bodenmüller gab einen grunzenden Laut von
sich und ging wortlos in einen dunklen Gang. Gerhard und Evi folgten.
Bodenmüller stoppte im Wohnzimmer. Der Aschenbecher auf dem Marmortisch quoll
über, eine Kippe glomm vor sich hin. Eine halb volle Flasche Jack Daniel’s und
drei leere Bierflaschen zierten den Tisch. Gab es heute noch Fototapeten?
Eigentlich nicht. In den siebziger Jahren waren sie der Gipfel innovativen
Designs gewesen. Je nach innerer Gestimmtheit des Bildertapetenklebers waren
das entweder Ansichten von Palmenstränden gewesen oder aber bodenständiger: der
teutsche Wald im Herbstgewand. Irgendwann waren diese Tapeten auf einmal alle
verschwunden, überklebt mit neutraler Raufaser. Wenige hatten im Verborgenen
überlebt – so wie dieser leicht angegilbte Herbstwald.
    Die Balkontür stand offen. »Sui hockt dussa«, grunzte
Bodenmüller.
    Gerhard und Evi betraten den Balkon, der zwar gar
nicht groß, aber dessen Bepflanzung dschungelartig war und von so was wie
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