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Nachtpfade

Nachtpfade

Titel: Nachtpfade
Autoren: N Förg
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Gewohnheiten
der Jacqueline Paulig herauszufinden.
    Er überließ Evi das Fahren, nicht zuletzt weil er
immer, wenn ein neuer Fall vor ihm lag, einige Zeit einfach nur abschalten
wollte. Er genoss diese Ruhe vor dem Sturm, dieses letzte Rasten, bevor der
Strudel ihn packte und mitriss und erst dann wieder ausspie, wenn die Lösung vor
ihm lag.
    Er schaute aus dem Fenster und befand, dass der
Mountainbiker, der auf dem Radweg den Hohenpeißenberg hochstrampelte, eine
völlig falsche Sitzposition hatte. Er notierte, dass das Eiscafé in
Hohenpeißenberg wieder mal einen neuen Namen hatte. Er wunderte sich über die
vielen Autos vor der Möbelzentrale, aber wahrscheinlich gab es Menschen, die
mehr Einrichtungsgegenstände benötigten als er mit seinem Billy-Regal und
seiner Matratze. Er überlegte, wann sie wohl die Schneefangzäune aufstellen würden
in Krottenhill, diesem windzerzausten Ort im Nirgendwo. Es war eine
Berufskrankheit, immer alles und jeden zu beobachten, abzuspeichern und
irgendwann, irgendwo wieder abzurufen, manchmal mitten in der Nacht, wenn er
aufwachte, zum Kühlschrank ging und ein Dachs öffnete. Erst als Evi in
Bertoldshofen rechts abbog, sah er zu ihr hinüber. »Und, wie fühlt es sich an,
nach Kempten zu fahren, nachdem ich dich da abgeworben habe? Wehmut?«
    »Eigentlich nein. Es mag für dein lokalpatriotisches
Ohr schlimm klingen: Aber Kempten war nie mein Zuhause. Die Allgäuer waren mir
immer zu eigentümlich: zu mundfaul, zu verschlossen, zu engstirnig. Den Inner
Circle hättest du da doch nur erreicht, wenn du deine Bergbauern-Anverwandten
lückenlos bis ins Mittelalter zurückverfolgen könntest. Nein, keine Wehmut,
Kempten war auch nur eine weitere Stadt auf dem Weg zum Ruhm.« Sie lachte.
»Nein, im Ernst. Kempten war sicher nicht die schlechteste meiner
Arbeitsstellen. Aber du, du Allgeier Kerla, wie sieht es mit dir aus?«
    Nun war es an Gerhard, zu lachen, die Fränkin Evi war
noch nie in der Lage gewesen, auch nur ein einziges Allgäuer Wort richtig zu
betonen. »I kriag Hennapfrupfa, wenn i di her. Föhl, schwätz besser frängisch.«
    »Wehmut? Sehnsucht?«, insistierte Evi.
    Gerhard überlegte. Zu lange, wie er fand. Er war
Allgäuer, sogar ein stolzer Allgäuer. Aber er konnte eigentlich überall leben,
wo es Berge gab und Weißbier. Und ein paar Menschen, mit denen er schweigen
konnte. Das Wort Sehnsucht lag im Dunkel der Vergangenheit. So vieles, was ihm
vielleicht einmal als erstrebenswert erschienen war, hatte sein Verfallsdatum
erlebt. Auch für den kühnsten Traum war es wahrscheinlich einmal zu spät. Bloß
war er sich überhaupt nicht sicher, ob er jemals kühne Träume gehegt hatte.
Völlig unvermittelt sagte er: »Wir ersticken fast am Geruch der Kadaver unser
Träume.«
    »Bitte?« Evi verriss das Steuer ein wenig. »Soll ich
den Notarzt holen?«
    Nun musste Gerhard lächeln. »Okay, das ist definitiv
nicht von mir. Das hab ich irgendwo gelesen, und das habe ich mir gemerkt. Weiß
nicht so genau, warum.«
    »Was meine Frage nach der Wehmut nur sehr indirekt
beantwortet«, meinte Evi.
    »Ja, eben. Indirekt.«

Kapitel 2
    »Dass der Mensch in seiner Jugend das
    Ziel so nahe glaubt! Es ist die schönste
    aller Täuschungen, womit die Natur der
    Schwachheit unseres Wesens aushilft.«
    Hölderlin, Hyperion
    Es wurde wieder still im Auto, zumindest was das Reden
betraf. Evi hatte eine jazzige Working-Week- CD eingelegt, und diese Musik lullte ihn ein. Sie waren am Berliner Platz
angekommen, und nun umfasste doch ein unbestimmtes Gefühl Gerhards Herz. Es war
kein gutes Gefühl. War das die viel besungene Wehmut?
    Wie das Amen in der Kirche kam es von Evi: »Warum baut
ihr Allgäuer eigentlich immer in die Löcher? Kempten liegt im Loch, Kaufbeuren
auch. Ihr seid Grottenolme!«
    »Danke, meine Beste, ich habe diese Tirade erwartet.
Fahr ins Thingers. Das liegt eindeutig höher.«
    Als Evi den Ring hinunterkurvte, fiel Gerhard auf,
dass diese Straße eigentlich ziemlich überdimensioniert war. Schön war diese
Zufahrt zu einer Stadt nicht, die mit einer Säule ihren Anspruch, Deutschlands
älteste Stadt zu sein, in den Boden zementiert hatte. Als Evi dann an der
zweiten Ampel rechts abbog und gleich wieder links, drängten viele alte Gefühle
und Geschichten heran. Sie handelten fast alle von den ersten Malen, als er
Karin, seine erste und einzige große vorbehaltlose Liebe, besucht hatte, als er
nervös und voller Erwartungen gewesen war. Waren die Häuser damals auch
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