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Nachtflug

Nachtflug

Titel: Nachtflug
Autoren: Antoine de Saint-Exupéry
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»Der Inspektor Robineau wird gebeten, uns keine Dichtungen, sondern Berichte zu liefern. Der Inspektor Robineau wird den nützlichsten Gebrauch von seinen Kompetenzen machen, wenn er sein Augenmerk darauf richtet, den Eifer des Personals anzuspornen.« Und so warf er sich denn von da ab auf alle menschlichen Schwächen wie auf sein tägliches Brot. Auf den Mechaniker, der trank, den Stationsleiter, der seine Nächte um die Ohren schlug, den Piloten, der bei der Landung Sprünge machte.
    Riviere sagte von ihm: »Er ist nicht sehr intelligent, trotzdem leistet er gute Dienste.« Die Grundvorschrift, die Riviere sich selber gab, hieß: Menschenkenntnis; aber für Robineau existierte nichts als Kenntnis der Vorschrift.
    »Robineau«, hatte Riviere eines Tages zu ihm gesagt, »zur Strafe für jeden verspäteten Start müssen Sie dem Betreffenden die Pünktlichkeitsprämie entziehen.«
    »Auch im Falle höherer Gewalt? Auch bei Nebel?«
    »Auch bei Nebel.«
    Und Robineau empfand eine Art Stolz darauf, einen Chef zu haben, der sich stark genug fühlte, um nicht vor Ungerechtigkeit zurückzuschrecken. Robineau selbst sog daraus verstärktes Hoheitsgefühl.
    »Sie haben um sechs Uhr fünfzehn starten lassen«, echote er später zu dem oder jenem Flughafenleiter. »Wir können Ihnen Ihre Prämie nicht zahlen.«
    »Aber, Herr Robineau, um fünf Uhr dreißig konnte man nicht zehn Meter weit sehen!« »Vorschrift.«
    »Aber, Herr Robineau, wir können den Nebel doch nicht wegfegen!«
    Worauf Robineau sich in hoheitsvolles Geheimnis verschanzte. Er war Mitglied der Direktion. Er allein unter diesen Nullen wußte Bescheid, wie man mit Strafen umgehen mußte, um die Zeitmaße zu verbessern. »Er denkt gar nichts«, sagte Riviere von ihm, »das erspart es ihm, falsch zu denken.« Wenn ein Pilot, der eine Prämie dafür bezog, daß er bisher noch nie Bruch gemacht hatte, eine Maschine zertrümmerte, verlor er seine Prämie.
    »Aber wenn er über einem Wald Panne gehabt hat?« hatte Robineau sich erkundigt. »Auch über einem Wald.« Und Robineau ließ es sich gesagt sein.
    »Ich bedaure«, sagte er hernach zu den Piloten, berauscht von Wichtigkeit, »ich bedaure sogar unendlich, aber man mußte die Panne eben anderswo haben.«
    »Aber, Herr Robineau, das wählt man sich doch nicht aus!«
    »Vorschrift.«
    ›Vorschrift‹, dachte Riviere, ›ist etwas Ähnliches wie die Riten einer Religion, die absurd scheinen mögen, aber die Menschen zurechtmodeln.‹ Es focht ihn wenig an, ob er gerecht oder ungerecht erschien. Vielleicht hatten diese Worte nicht einmal für ihn selber einen Sinn. Gerecht oder ungerecht - etwa in den Augen der Kleinbürger, die abends um ihren Musikpavillon promenieren, immer im Kreise herum? ›Sinnlos. Sie existieren nicht.‹ Der Mensch war für ihn ein ungeformtes Wachs, das man kneten mußte. Stoff, dem man eine Seele geben, einen Willen schaffen mußte. Er wollte sie nicht knechten durch diese Härte, sondern sie über sich selbst hinauszwingen. Wenn er jede Verspätung so rücksichtslos bestrafte, beging er zwar eine Ungerechtigkeit, aber er richtete dadurch den Willen jeder Station auf den Start - schuf diesen Willen überhaupt erst. Indem er es nicht au&ommen ließ, daß die Leute sich etwa über unsichtiges Wetter freuten als über eine willkommene Gelegenheit zum Nichtstun, hielt er sie auf jede Lichtung am Himmel gespannt, hielt sie alle bis zum letzten, unscheinbarsten Arbeiter heimlich in Bann. Keine Bresche im Wolkenverhau blieb ungenutzt: »Auftlaren im Norden - vorwärts!« Auf fünfzehntausend Kilometer hin galt, dank Riviere, nur eins: der Dienst an der Sache.
    »Diese Menschen«, sagte Riviere manchmal, »sind glücklich, weil sie ihren Beruf lieben, und sie lieben ihn, weil ich hart bin.« Sie hatten vielleicht unter ihm zu leiden, aber er schuf ihnen auch starke Freuden. ›Man muß sie antreiben‹, dachte er, ›zu einem starken Leben, das Leiden und Freuden mit sich bringt, aber das allein Wert hat.‹
    Als der Wagen in die Stadt einfuhr, ließ Riviere sich zum Büro der Gesellschaft bringen. Robineau, allein geblieben mit Pellerin, schaute ihn an und öffnete die Lippen zum Sprechen.
V
    Robineau fühlte sich müde an diesem Abend. Es war ihm gegenüber Pellerin, dem Sieger, zum Bewußtsein gekommen, daß sein eigenes Leben grau war. Es war ihm vor allem zum Bewußtsein gekommen, daß er, Robineau, trotz Inspektortitel und -würde weniger galt als der erschöpfte Mann, der da in die Ecke
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