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Nacht über der Prärie

Nacht über der Prärie

Titel: Nacht über der Prärie
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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das Meer singen.
    »Das muß sie sein. Unsere Mutter erzählte mir davon, als wir uns das letztemal sahen und sie schon wußte, daß sie sterben würde. Es ist eine Muschel, wie sie unser Ahne Inya-he-yukan bei sich trug, als er den Traum der Mannbarkeit von dem ›Stein mit Hörnern‹ träumte. Ich sollte sie haben, sobald ich meinen Namen nicht nur empfangen, sondern auch verdient hätte.«
    »Das hast du jetzt. Du hast uns die Büffel wiedergebracht.«
    Joe schaute lange stumm vor sich hin.
    Er nahm die Muschel wieder an das Ohr, als ob er die Stimme seiner Mutter darin noch einmal hören könne, und er nahm sie an die Wange, als ob er die Hand seiner Mutter damit noch einmal fühle.
    Dann verabschiedete er sich rasch. Er nahm sein Jagdgewehr mit, das Margret noch verwahrt hatte, und suchte eine Fahrgelegenheit nach der Reservation ausfindig zu machen. Margret begleitete ihn ein Stück. Sie berichtete dabei mit Stolz, daß ihre Kinder in der Schule jetzt eifriger lernten und sich Joe und Queenie ernsthaft als Vorbild erwählt hatten. Als Neffen und Nichten eines Rodeo-Siegers und einer angesehenen Malerin hatten sie bei Lehrern und Schülern einen besseren Stand und daheim mehr Ruhe als in jenen Jahren, in denen ihr Onkel Joe von der Polizei – zuweilen auch in Margrets Hütte – gesucht wurde.
    Ein Lastwagen, der in der Nacht zur Agentur fuhr, nahm Joe mit. Von der Neubausiedlung bei der Agentur gelangte er mit Frau Holland, der Rektorin, die auch in den Ferien hin und wieder zur Schule fuhr, bis zu der Wegkreuzung an der Straße im Tal der weißen Felsen. Als er ausstieg, zögerte Frau Holland einen Augenblick.
    »Joe – Sie erlauben, daß ich Sie noch einmal so nenne – Büffelrancher und Sieger von Calgary – ich schäme mich immer, wenn ich Sie sehe. Ich hätte Ihnen besser helfen müssen, als Sie mein Schüler waren. Ich habe Ihnen überhaupt nicht geholfen.«
    »Ich schäme mich auch, Missis Holland. Ich hätte Ihnen nicht soviel Ärger zu bereiten brauchen. Ich fand als Kind keine Liebe bei Ihnen, das ist wahr, sondern nur Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist abstrakt. Ich wurde dann auch zu einem Menschen, der abstrakt dachte, viel abstrakter, als die Watschitschun einem Indianer je zutrauen würden. Ich haßte ›die‹ Lehrer, ›die‹ Schule, ›die‹ Polizei, ›die‹ Gerichte, ›die‹ Beamten und ›die‹ Ärzte, endlich ›die‹ Menschen überhaupt. Man sollte aber unterscheiden; mit Menschen muß man konkret umgehen, wie unsere Vorfahren es taten, nicht abstrakt. Holland, Ball und Teacock, Lehrer und insofern dasselbe – und doch nicht das gleiche!«
    »Auch ›die‹ Gerechtigkeit sollte also dem Ungleichen ungleich begegnen, Joe. Ich habe übrigens jetzt ein neues Sorgenkind, vielleicht wissen Sie einen Rat. Einen zehnjährigen Buben. Er ist epileptisch, frühreif, überempfindlich, hochbegabt, aber in seinen Leistungen weit zurück. Wir müssen ihn eine Klasse wiederholen lassen; ein neuer Schock für das Kind. Die Mutter wohnt sehr abgelegen; der Weg ist zu weit für den kranken Buben, und wir haben für Epileptiker kein Pflegeheim. Ich fürchte ein schlimmes Ende für den kleinen Byron Bighorn.«
    »Soll ich den Buben bei uns aufnehmen?«
    »Sie, Joe? Wissen Sie, was das bedeutet, Epilepsie? Sie haben selbst Kinder.«
    »Das lassen Sie meine Sorge sein, Missis Holland. Die Ihre ist es, das Kind nicht zum Sitzenbleiber zu machen.«
    »Entschuldigen Sie, Joe… Beschluß der Lehrer-Konferenz.«
    »Nach abstrakten Maßstäben. Denken Sie an den Menschen, Missis Holland. Ich weiß, was es für mich hieß sitzenzubleiben.«
    »Von der anderen Seite, ganz konkret, Joe: Sie sind ein Mann und Championreiter. Können Sie kranke Kinder lieben?«
    »Ich denke, ich kenne den Bub. Er weiß vielleicht mehr Geheimnisse des Menschen als wir in der Schule Wahrheiten lernen, und er hat mit fünf Jahren einmal mein Geheimnis gewahrt, als die Polizei mich suchte. Nun entschuldigen Sie, Missis Holland, Sie sehen, ich war nicht nur, ich bleibe auch ein widerspenstiger Bursche. Good bye.«
    Joe grüßte, die Rektorin schloß die Tür wieder und startete. Stonehorn machte das letzte kleine Stück am Hang aufwärts zu Fuß. Auf den Weiden spielten die Pferde. Die Stute war trächtig. Der Schecke kam als erster zu Stonehorn herbei. Joe koste dieses Tier, das ihm soviel Mühe verursacht und ihm den großen Kummer bereitet hatte. Er vergaß auch den Dunkelbraunen nicht.
    Drüben auf der anderen Talseite
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