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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten
Autoren: Gisa Klönne
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mich …«, sie fasst sich an die Kehle, »er wollte mich …«
    Â»Haben Sie die Polizei verständigt?«
    Die Frau beginnt zu schwanken, als ob sie nun, da sie sich Ekaterina anvertraut hat, alle Kraft verließe. »Das Projekt«, murmelt sie und tastet nach einem Halt.
    Was bleibt ihr übrig? Ekaterina stemmt ihre Schulter stabilisierend unter den Arm der Fremden und schiebt sie ins Institut. Ohne erkennbare Gegenwehr oder Mithilfe lässt die Frau es geschehen. Trotz ihrer beachtlichen Größe wiegt sie nur wenig, doch als sie sich schließlich bis ins Büro vorgearbeitet haben, ist Ekaterina außer Atem. Sie bugsiert ihre ungebetene Besucherin auf die Untersuchungspritsche und wirft ihren Mantel ab. Die Frau beobachtet sie. Abschätzend? Verängstigt?
    Â»Sie sind sehr stark für eine so kleine Person«, flüstert sie.
    Â»Wie heißen Sie?«
    Â»Ines. Nennen Sie mich Ines.«
    Â»Nachname?«
    Die Frau schließt die Augen, ihr Kopf rollt zur Seite. Kollabiert sie etwa? Ekaterina sehnt sich nach dem vertrauten Prozedere einer Obduktion, bei dem sich Fragen dieser Art nicht stellen.
    Â»Winkeln Sie die Beine an, Ines, stellen Sie sie auf«, befiehlt sie mit ihrer Ärztinnenstimme. »Atmen Sie tief durch. Und dann erzählen Sie bitte. Was hat Ihr Mann getan? Weshalb sind Sie hier?«
    Statt zu antworten, beginnt die Frau zu zittern, lautlos, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Ekaterina breitet eine Wolldecke über sie und versucht zu rekapitulieren, was ihre Vorgängerin über misshandelte Frauen gesagt hat. Sie stehen unter Schock, unterliegen starken Stimmungsschwankungen. Einige berichten die ungeheuerlichsten Dinge in so neutralem Ton, als sprächen sie über das Wetter. Andere sind nicht fähig, überhaupt etwas zu sagen. Wieder andere leugnen. Sehr hilfreich, wirklich, sehr, sehr hilfreich.
    Sie beschließt, sich lieber nicht auf ihre psychologischen Fähigkeiten zu verlassen, sondern sich stattdessen auf den Körperzu konzentrieren. Die Frau, die sich Ines nennt, konnte ihre Gliedmaßen eben noch bewegen. Sie scheint keine inneren Verletzungen zu haben, keine gebrochenen Rippen, sonst hätte sie den Transport ins Büro nicht klaglos mitgemacht. Vorsichtig streicht Ekaterina ihr die nassen Ponyfransen aus der Stirn. Keine Platzwunden oder kahlen Stellen im Haar. Keine sichtbaren Hämatome im Gesicht. Die Haut ist weich. Makellos. Die Augen öffnen sich wieder und starren angstvoll zu Ekaterina empor.
    Die Bindehaut ist gerötet. Ekaterinas Herzschlag beschleunigt sich. Sie nimmt eine Untersuchungslampe, während sie beruhigend auf die Frau einredet und sich weiter herunter beugt. Petechien, Punktblutungen, ganz eindeutig. Blutzufluss und -abfluss zum Gehirn müssen unterbrochen gewesen sein. Sie überprüft auch die Mundschleimhaut, leuchtet hinter die Ohren.
    Â»Ihr Mann hat Sie gewürgt. Ich vermute, Sie sind sogar ohnmächtig geworden.« Nein, denkt sie wild, ich weiß, dass du schon weggetreten warst. So wie es aussieht, ist es ein Wunder, dass du wieder zu dir gekommen bist. Jemand hat versucht, dich zu töten, so viel steht fest.
    Â»Kommen Sie, ich untersuche Sie. Deshalb sind Sie doch gekommen, nicht wahr? Ziehen Sie sich aus, Ines. Vertrauen Sie mir, ich tue Ihnen nicht weh.«
    Durchnässte Pumps, Designerjeans, ein beigefarbener Rollkragenpullover. Darunter Seidenwäsche, blutbefleckt. Die Hämatome am Hals sind noch sehr blass. Fingerabdrücke in lichtem Himmelblau, ganz ungefährlich sehen sie aus, ganz zart. Aber die Flecken an den Innenseiten der Oberschenkel sind alles andere als dezent. Hämatome in verschiedenen Entwicklungsstadien. Mehrere Zentimeter groß. Dunkelblau, violett, gelblich, braun schillern sie.
    Â»Ihr Mann vergewaltigt Sie.«
    Die Frau schüttelt den Kopf, beginnt wieder zu zittern.
    Ekaterina fotografiert, vermisst, dokumentiert.
    Â»Sie müssen zur Polizei gehen. Wer auch immer das getan hat, ist gefährlich.«
    Wieder schüttelt die Frau den Kopf, greift nach ihrer Kleidung. Nun, da ihre Verletzungen untersucht worden sind, kehrt Leben in sie zurück, nun will sie gehen.
    Â»Wie heißen Sie mit Nachnamen?«
    Die Frau umklammert ihren Anorak, hastet auf den Flur. Ekaterina hat keine Befugnis, sie zum Bleiben zu zwingen. Sie muss den Wunsch der Patientin nach Vertraulichkeit respektieren. So will es das Projekt, so
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