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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten
Autoren: Gisa Klönne
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Spiegelbild zu. Zwei bis drei Stunden will sie ins Institut, ein paar Kleinigkeiten erledigen, die unter der Woche liegengeblieben sind. Danach zum Markt, Gemüse und Gardinenstoff kaufen, am Nachmittag vielleicht ein gutes Buch auf dem Sofa, ein Schaumbad und abends tanzen gehen.
    Sie wählt den Weg am Kanal entlang, in den sie sich sofort verliebt hat. Die Luft schmeckt nach Regen, der Asphalt glitzert. Die kahlen Kronen der Kastanien akzentuieren das spärliche Licht der Straßenlaternen, von den Ausfallstraßen der Stadt weht gedämpfter Verkehrslärm herüber. Am Wochenende ist sie hier um diese Uhrzeit allein, nicht einmal die unermüdlichen Jogger und die Rentner mit ihren fett gefütterten Schoßhunden sind schon unterwegs. Schlafende Schwäne gleiten über das Wasser wie Träume. Sie hält inne, sieht ihnen zu. Schwäne sind Luxusgeschöpfe, dort, wo sie herkommt, gibt es keine Schwäne. Eine Windbö schlägt ihr den Schal vors Gesicht. Sie fährt zusammen, unterdrückt einen Schrei. Nur der Wind. Sie stopft das Schalende unters Mantelrevers. Der Wind bringt nichts Gutes. Wieder dieser Gedanke, genährt von einem Wissen, das älter ist als sie. Auf einmal fühlt sie sich unwohl so allein und beschleunigt ihre Schritte, dass die Stiefelabsätze ein wildes Stakkato aufs Pflaster hämmern.
    Der Anblick des Rechtsmedizinischen Instituts, das sie eine Viertelstunde später erreicht, bringt ihr die Ruhe zurück. Ihr Arbeitsplatz, ihr Glück. Das Stipendium für das Medizinstudium in Deutschland war ihr Ticket in die Freiheit. Sie hat hart gearbeitet, sehr hart, und trotzdem war ihr Abschluss mit Auszeichnung keineswegs ein Garant dafür, dass sie bleiben durfte. Aber sie hat es geschafft. Einer ersten Anstellung in Kiel folgte ein Jahr Frankfurt. Und nun ist sie hier in Köln gelandet, mit einem Arbeitsvertrag für drei weitere glückliche deutsche Jahre, mit der Lizenz, die unzähligen Facetten des Todes noch weiter zu ergründen. Dr. Ekaterina Petrowa, Rechtsmedizinerin an der Universität zu Köln. Sie lächelt, als sie den Institutsschlüssel aus ihrer Handtasche nimmt. Ja, sie hat allen Grund, zufrieden zu sein.
    Sie vermag nicht zu sagen, woher die Frau gekommen ist. Wie aus dem Boden gewachsen steht sie neben ihr, gerade als Ekaterina die Glastür neben der Pförtnerloge aufschließen will.
    Â»Bitte. Sie müssen mir helfen.«
    Â»Helfen?« Ekaterina widersteht dem Impuls, sich an der Frau vorbeizudrängen und die Tür von innen zu verriegeln. Irgendetwas an ihr ist beunruhigend, vielleicht die fiebrige Entschlossenheit, mit der sie Ekaterina fixiert. Andererseits sieht die Frau nicht wie eine Asoziale oder Verbrecherin aus, eher im Gegenteil, reich und gepflegt, auch wenn sie offenbar ziemlich lange durch den Regen gelaufen ist.
    Â»Das Projekt«, flüstert die Frau. Ihre Stimme klingt wie Wind in Birkenlaub. »Sie sind doch die Nachfolgerin von Frau Doktor Schmitt-Mergel?«
    Die Vorfreude auf diesen Tag, die Ekaterina soeben noch erfüllt hat, verfliegt. Wie festgefroren steht sie da. Häusliche Gewalt. Das Kölner Modellprojekt. Das Vorzeigeprojekt. Lieblingskind ihrer Vorgängerin Antje Schmitt-Mergel. Beim Vorstellungsgespräch hat Ekaterina ganz vorsichtig gefragt, ob die Projektleitung unabänderlich an ihre Stelle gebunden sei, sie habe sich ja bislang eher auf die Toten konzentriert, nicht so sehr auf Gesellschaftspolitik, kenne ja auch die Kölner Mentalität und Behörden noch nicht, ob nicht ein Kollege … – Die Frauen werden sich Ihnen schon anvertrauen, von Frau zu Frau, hatte ihr künftiger Chef gesagt. Und die Untersuchungen schaffen Sie allemal. Oder wollen Sie die Stelle nicht? Was für eine Frage. Natürlich hatte Ekaterina eilig erklärt, sie werde das Projekt zusätzlich zu ihren sonstigen Aufgaben im Institut mit großer Freude übernehmen.
    Â»Dr. Petrowa, das sind Sie doch?« Die Frau nestelt einen Zeitungsausschnitt aus ihrer Anoraktasche, den unübersehbar ein Foto von Ekaterina ziert. »Diese Frau kämpft gegen Gewalt« brüllt die Überschrift, ein klarer Beweis dafür, dass auch deutsche Zeitungen es mit der Wahrheit nicht immer genau nehmen.
    Â»Das Institut ist samstags geschlossen.«
    Â»Bitte«, wiederholt die Fremde heiser. »Sie sind doch oft auch am Wochenende hier. Mein Mann … er hat
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