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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten
Autoren: Gisa Klönne
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im Rinnstein kleben die aufgeweichten Überreste einer Silvesterrakete. Der Wochenend-Soundtrack der Innenstadt liegt in der Luft: Motorenlärm, Gesprächsfetzen, Musik. Judith schließt die Augen,während ein Polizeistreifenwagen sie durch die fiebernde Innenstadt in den Nordwesten bringt. Sie sehnt sich plötzlich nach etwas, vielleicht einfach nur nach einem jüngeren Ich. Es gab einmal eine Zeit in ihrem Leben, da glaubte sie, Gut und Böse unterscheiden zu können, und für jede Verzweiflung gab es eine Hoffnung.
    Am Aufgang der S-Bahn-Haltestelle Gewerbepark warten weitere Polizeiautos. Die Haltestelle liegt erhöht auf schmuddeligem Mauerwerk, das in einen struppig bewachsenen Bahndamm übergeht. Jenseits der Unterführung erkennt Judith eine vernachlässigte Schrebergartenkolonie. Das Gebiet zwischen Ehrenfeld und Bickendorf, das der Haltestelle den Namen gab, befindet sich im Umbruch, zur Kleinindustrie aus diversen Handwerksbetrieben, Auto- und Schrotthändlern haben sich die ersten Bürokomplexe gesellt. An der Straße zum Haltestellenaufgang stehen zum Abriss vorgesehene Mietshäuser und eine alte Backsteinfabrik. Die Fenster sind dunkel. Auch das einzige Lokal weit und breit, eine Pizzeria, hat längst geschlossen.
    Â»KHK Krieger?« Eine Polizeimeisterin mit straff gebundenem Pferdeschwanz deutet vage die Treppe hinauf. »Der Zeuge, der uns verständigt hat, ist noch hier.«
    Graffiti an den Wänden des Treppenaufgangs. Abfall, Urinränder und Erbrochenes auf den Stufen. Die Polizeimeisterin folgt Judith stumm nach oben, wo weitere Polizisten einen drahtigen Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt bewachen. Von einem Toten ist nichts zu sehen.
    Â»Der Tote liegt da drüben«, die Polizeimeisterin zeigt auf eine etwa 150 Meter von der Haltestelle entfernt wartende S-Bahn mit leuchtenden Scheinwerfern.
    Â»Wie hat der Zeuge ihn da gefunden?«
    Â»Er sagt, er ist rübergelaufen, weil die S-Bahn nicht einfuhr, wollte sich beschweren.« Die Polizistin senkt die Stimme. »Der hat eine ganz schöne Fahne.«
    Â»Ich schau mich mal um«, sagt Judith. »Behaltet ihn hier. Was ist mit dem Bahnverkehr?«
    Â»Ist nicht unterbrochen. Aber der Zug steht ja auch auf dem Wartegleis.« Einer der Beamten gibt ihr eine Stableuchte. Sie springt ins Gleisbett, schaltet die Lampe ein. Nieselregen hängt in der Luft wie Weichzeichner, legt sich auf ihre Haare, ihr Gesicht, ihren Mantel. Millionen feiner Tröpfchen, die unaufhaltsam Spuren zerstören. Wie viel Zeit ist vergangen, seit der Tote gefunden wurde? Zu viel Zeit. Judith beschleunigt ihre Schritte. Die Gleise schimmern kalt im Licht der Taschenlampe, die Scheinwerfer der Bahn blenden Judith. Jenseits des Gewerbeparks erscheint das Großbordell Amor zum Greifen nah: neun Stockwerke, an deren Fassade sich rote Lauflichter jagen. Weiter entfernt schwimmt der Dom in den Lichtern der Innenstadt wie in buntem Nebel.
    Der Tote liegt neben dem Führerstand der S-Bahn im Schotter, ein Knie angezogen, halb seitlich auf dem Bauch, als schliefe er. Doch sein grotesk in den Nacken gebogener Kopf macht den ersten Eindruck friedlicher Entspannung zunichte. Der Kopf und das Blut, das aus seinem leicht geöffneten Mund geflossen ist. Beinahe schwarz sieht es aus. Ölig. Judith hockt sich hin und leuchtet dem Mann ins Gesicht. Seine Augen sind schon trüb, trotzdem ist es ihr, als sehe er sie an und bitte um etwas, nicht verstehend, was mit ihm geschehen ist, nicht bereit, seinen Tod zu akzeptieren. Der Geruch von Blut steigt ihr in die Nase. Metallisch. Süßlich. Lebenssaft, der sich bereits zersetzt, nutzlos wird. Urin und Kot mischen sich dazu. Wahrscheinlich hat der Mann im Moment seines Todes in die Hosen gemacht.
    Â»Ich denk die ganze Zeit, dass er was zu sagen versucht.« Der Polizist, der neben dem Toten gewartet hat, kreuzt die Arme vor der Brust.
    Â»Was?«
    Â»Was?« Irritiert sieht er Judith an.
    Â»Was, glaubst du, versucht er zu sagen?«
    Der Mann zieht die Schultern hoch. »Keine Ahnung, ist ja auch Quatsch.«
    Wortlos zwingt Judith Latexhandschuhe über ihre klammen Finger. Der Tote ist korpulent. Er trägt Sweatshirt, Hose und Schuhe, alles in Dunkelblau oder Schwarz. Das Blut ist wirklich überall. Sie fasst unter den Kopf des Mannes, registriert Schürf- und Platzwunden auf Stirn und Wange. Die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt. Wie schwer
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