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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock
Autoren: Jon Mayhew
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schützen, sah genau zu ihr herüber. Sie erschrak. Unter seinem abgewetzten Zylinder lugten dichte graue Locken hervor. Ihre Blicke trafen sich einen Moment, dann drehte er sich um und verschwand in der Menge, die sich über den Gehweg drängte.
    Josie blinzelte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Der Mann hatte sie beobachtet, da war sie ganz sicher. Das Theater lockte so manche schrägen Vögel an. Falls er noch einmal auftauchte, würde sie Ernie auf ihn aufmerksam machen. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Cardamom und seinen Bewunderern zu.
    »Mr Cardamom, Sie müssen unbedingt einmal vorbeikommen und mir von Ihren Abenteuern erzählen.« Eine Dame im Pelzmantel reichte ihm ihre Karte. Josie verzog das Gesicht, als sie den Blick sah, mit dem die Frau ihn anschmachtete.
    »Mit dem größten Vergnügen, Madam.« Cardamom verneigte sich tief und schob die Karte in seine Innentasche. Josie verdrehte die Augen. Niemand beachtete sie; es war, als wäre sie unsichtbar. Während der Vorstellung klatschten sie eifrig – warum konnten sie jetzt nichts sagen?
    Josie stand da und sah zu, wie das Grüppchen sich nach einigen weiteren Komplimenten auflöste. Cardamom hob die Hand, um zu winken, doch niemand schaute sich um, während die Herrschaften in ihre wartenden Kutschen stiegen.
Er sieht so einsam aus
, dachte sie. Er hätte nicht einsamer wirken können, wenn er in einem windigen Moor oder an einem menschenleeren Strand gestanden hätte. In solchen Augenblicken verstand sie ihn. Manchmal fühlte sie sich genauso: einsam. Nein, schlimmer noch: verlassen.
    »Komm. Mrs Yates wartet bestimmt schon auf uns«, sagte Cardamom und drehte sich zu Josie um. Die Lebendigkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Der Auftritt war vorbei. Josie kannte das Gefühl – es war wie eine Papiertüte, die erst prall mit Luft gefüllt war und dann plötzlich zerplatzte. Sie folgte Cardamom die Straße entlang zu dem einzigen Zuhause, das sie beide kannten: Bluebell Terrace. Während sie über das Kopfsteinpflaster lief, den Blick auf Cardamoms Rücken geheftet, hoffte sie, dass er nicht wieder in diese düstere Stimmung verfallen würde. Nicht heute Abend.

O grabt mir ein Grab, lang und breit, tief dazu,
    Und deckt mich mit duftenden Blumen zu,
    Dort will ich dann liegen zur letzten Ruh,
    Nur so kann ich sie je vergessen.
    Die treulose Braut
(The False Bride)
,
altes Volkslied

2. KAPITEL

Ein Dieb aus der Vergangenheit
    Josie hakte sich bei Cardamom ein und ging neben ihm her. Obwohl es schon spät war, herrschte noch munteres Treiben im Schein der Gaslaternen. Aus den hell erleuchteten Varietés und Gasthäusern strömten lachende Gäste. Fliegende Händler, Taschendiebe und Polizisten zogen durch die Straße. Sie hielt Ausschau nach dem Fremden, der vor dem Erato gestanden und sie angestarrt hatte, doch sie sah ihn nicht wieder. Kutschen rollten vorbei und zwangen Josie, ihren Rocksaum hochzuziehen, damit sie keine Schlammspritzer abbekam. Normalerweise liebte sie das lebendige Hin und Her, doch an diesem Abend senkte sich Cardamoms trübe Stimmung wie ein dichter Nebel auf sie.
    Der Lärm wurde leiser, als sie in die kleine Seitenstraße abbogen, in der ihr Zuhause war: ein bescheidenes Reihenhaus, das genauso aussah wie die Häuser rechts und links davon, mit einem Wohnzimmer, einem Esszimmer, Küche und Waschraum im Untergeschoss und drei Schlafzimmern im Obergeschoss. Josie war hier aufgewachsen, und sie war zufrieden mit ihrem Schicksal. Sie kannte kein anderes Leben.
    Mrs Yates empfing sie an der verwitterten Haustür. Ihr langes Gesicht wirkte durch den straff gebundenen Knoten noch strenger.
    »Guten Abend, Mrs Yates. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?«, sagte Cardamom, höflich wie immer, aber ohne jedes Interesse.
    »Heute gibt es Eintopf, Mr Chrimes«, sagte Mrs Yates, ohne auf seine Frage einzugehen. Sie benutzte nie seinen Bühnennamen. Josie trat ins Haus, froh über die Wärme. Mrs Yates bedachte sie mit einem säuerlichen Blick.
    »Guten Abend«, begrüßte Josie die Haushälterin, um einen freundlichen Tonfall bemüht.
    »Eintopf«, seufzte Cardamom und zog seinen Mantel aus. Mrs Yates kannte nur ein Gericht, und das gab es jeden Tag: Eintopf. Josie merkte, wie ihr Hunger schwand.
    »Sie haben doch nicht vergessen, dass ich morgen meinen Wochenlohn bekomme, oder, Sir?«
    »Nein, Mrs Yates, das habe ich nicht vergessen«, entgegnete Cardamom barsch. Wütend warf er seinen Hut auf den Garderobentisch und
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