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Mordsee

Mordsee

Titel: Mordsee
Autoren: Reinhard Pelte
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Nur der Atlantik Swell wiegte es sanft hin und her.
    Für ihn waren Rollen und Stampfen angenehme Begleiterscheinungen seiner Arbeit. Sie versetzten ihn zurück in seine Jugend bei der Hochseefischerei. Das Leben damals war hart gewesen, aber befriedigend. Davon träumte er noch heute. Die Erinnerungen an seine Fahrten auf dem Hecktrawler ›Karl Kämpf‹ in den rauen Norden, die Dänemarkstraße, den Westfjord, zu den Lofoten und auf die Neufundlandbänke waren so frisch, als hätten sie erst gestern ihre stolzen Fänge an Kabeljau und Rotbarsch in Bremerhaven angelandet.
    Seine Hände zitterten. Er zog den Flachmann aus der Brusttasche und nahm einen Schluck. Sofort wurde ihm wohler. Die Wärme beruhigte ihn und stimmte ihn optimistisch. Nur in seinem Kopf störte die stetig präsente Ermahnung seiner Mutter: ›Erwin, denk an deinen Vater. Trink nicht so viel.‹
    Seine Eltern waren schon lange tot. Sein Vater starb zuerst. Seine Mutter behauptete, der Alkohol hätte ihn ins Grab gebracht. Wenige Jahre später war sie ihm gefolgt.
    Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Angelrute zuckte. Er sprang an die Rolle und kurbelte. Es konnte kein sehr großer Fisch sein, dachte er enttäuscht. Hier, vor der Bretagne, hatte er schon, wenn auch selten, weitaus kapitalere Fänge gelandet. Makrelen, Meeräschen, Franzosendorsche, sogar Wolfsbarsche hatte er am Haken gehabt. Einmal war ihm die Schnur gebrochen und die Beute entkommen. Er war der festen Überzeugung, dass nur ein riesiger Heilbutt das geschafft haben konnte. Sie hatten ihn deswegen ausgelacht, er aber war standhaft bei seiner Meinung geblieben. Es musste ein Heilbutt gewesen sein, trotz der Unwahrscheinlichkeit, ihn vor der bretonischen Küste anzutreffen.
    Der Fisch ließ sich leicht an Bord nehmen. Mittel- und Ringfinger seiner rechten Hand behinderten ihn. In letzter Zeit waren die Finger immer krummer geworden und ließen sich nicht mehr strecken. Vielleicht sollte er den Schiffsarzt aufsuchen, dachte er flüchtig. Es war ein Hering. Er überlegte, was er damit machen sollte. Wieder zurück ins Wasser werfen? Nein, er würde ihn zum Räuchern in die Kombüse bringen und in ein paar Tagen verspeisen, spät am Abend, wenn alle an Bord schon satt waren, der Abwasch erledigt und in der Kombüse und der Pantry Ruhe eingekehrt war. Früher waren Heringe ein Arme-Leute-Essen gewesen, heute waren sie eine teure Delikatesse. Bei dem Gedanken an den seltenen Gaumenschmaus verflüchtigte sich seine Enttäuschung über das Leichtgewicht.
    Er nahm noch einen Schluck aus dem Flachmann, hakte den Fisch ab, packte das Angelzeug zusammen und ging den Niedergang ins Offiziersdeck hinunter. Die Pantry gegenüber der Messe war sein Reich. Das Bordtelefon läutete.
    »Steward … Ja, Herr Kap’tän … , ja, bin schon unterwegs.«
    Die tägliche Besprechung der Offiziere in der Messe war vorverlegt worden. Heute war Donnerstag, und der Messeoffizier hatte ihn angewiesen, für den ›Seemanns-Sonntag‹ früher aufzubacken. In der sich tagtäglich wiederholenden Bordroutine war das wöchentliche Marineritual eine heilige Kuh. Man erwartete von ihm, dass er ihr die gebührende Aufmerksamkeit schenkte. Das hatte er schnell begriffen. Er verließ das Offiziersdeck durch das Plastikschott in Richtung Vorschiff. Das Schiff krängte nach Lee. Er turnte über das Mitteldeck nach vorn in den Kombüsentrakt.
    »Wohin, Steward?«, rief ihn der Brückenoffizier an.
    »Seemanns-Sonntag für die Messe, Herr Oberleutnant.«
    »Ein Pott Kaffee würde mir jetzt auch guttun.«
    »Wird gemacht, Herr Oberleutnant.«
    »Beeil dich, Erwin! Wir wechseln gleich den Bug. Dass du mir ja nicht mitsamt dem Kaffee über Bord gehst.«
    Der Ton des Offiziers gefiel ihm nicht. Wie alt mochte der Schnösel sein? 25, 26? Er war es gewohnt, von den Offizieren herumkommandiert zu werden. Er quittierte ihre Befehle mit gleichbleibender Freundlichkeit. Sie hatten sich daran gewöhnt und belohnten seinen stoischen Gleichmut, indem sie ihn ab und zu beim Vornamen riefen. Er schluckte sein aufflackerndes Unbehagen runter und beeilte sich, das Steuerbordschott vor der Back zu erreichen.
    »Schon so früh, Erwin? Der Kaffee braucht noch Zeit«, begrüßte ihn der zweite Koch.
    »Gib mir den Kuchen, Smut. Kannst nicht schon mal ’ne Kanne abfüllen? Der WO hat Kaffeedurst.«
    »Weil du’s bist, Erwin, arme Sau.«
    »Selbst arme Sau, alter Wichser.«
    »Ich leck den Herren aber nicht die Seestiefel, Erwin.«
    »Dafür
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