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Mordsee

Mordsee

Titel: Mordsee
Autoren: Reinhard Pelte
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leitete die Behörde, als hätte sich gar nichts getan. Die Zuständigkeitsbereiche waren neu geschnitten worden. Die Arbeit war in bestimmten Bereichen mehr geworden und musste umverteilt werden. Viel Lärm um wenig, meinte Jung.
    Normalerweise arbeitete er an ungelösten Fällen aus längst vergangenen Zeiten. Nur die unmittelbar Betroffenen, falls sie noch lebten, litten unter den Missetaten von Menschen, die die Polizei nie hatte fassen können. Aber auch eine späte Aufklärung lindert das Leid. Das war eine von den Gewissheiten, zu denen Jung im Laufe der Jahre gekommen war. Gelang es ihm, einen Schuldigen zu überführen und vor den Richter zu bringen, breitete sich bei den Beteiligten Erleichterung aus. Bei den unmittelbar Betroffenen stellte sich sogar Genugtuung ein, ein Ruhekissen, auf dem sie besser schliefen als davor.
    Sein vorletzter Fall hatte 16 Jahre zurückgelegen. Sein letzter Fall war eigentlich gar kein Fall. Er war ihm nicht zur Aufklärung übertragen worden. Jung war da blindlings reingeschlittert. Sein Urlaub hatte sich zu einem Albtraum entwickelt. Er war Mittäter an einem Verbrechen geworden, das rund um die Welt noch immer für Schlagzeilen sorgte. Wenn ans Licht käme, wozu er sich hergegeben hatte, drohte ihm Entlassung. Aber auch nur dann, wenn ihm sein Glück hold war. Wenn nicht, erwarteten ihn Konsequenzen, die er sich lieber nicht ausmalen wollte.
    Das Schlimmste war das Schweigen. Sogar Svenja gegenüber schwieg er. Als das Erlebnis noch frisch gewesen war, hatte er einen halbherzigen Versuch unternommen, seine Frau ins Vertrauen zu ziehen, sie aber zuvor gewarnt. Ihre Reaktion hatte ihn überrascht. Früher wäre er eine Wette eingegangen, dass sie sich anders entschieden hätte. Er gestand sich ein, dass er ihre Intelligenz noch immer unterschätzte.
    Nach dem Urlaub empfand er seine Stellung als Leiter des S-Kommissariats, die er bis dahin als eine kuriose Schrulle des Schicksals dankbar hingenommen hatte, nicht mehr als so glücklich. Seine Ernüchterung hatte das Verständnis für die Beamten der anderen Kommissariate wachsen lassen. Seine Kollegen mussten sich der Einflussnahme fremder Autoritäten erwehren und sich mit enthemmten Medien herumschlagen. Und dafür hatten sie sich auch noch vor einer aufgebrachten Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Wie kamen sie überhaupt damit zurecht? Darüber war nichts Genaues zu erfahren.
    Jung fühlte sich zunehmend wie ein Fremder. Er kam sich schwerfällig, müde und mutlos vor und immer öfter wie ein kränkelnder Romantiker mit dem unheilvollen Hang zur Idylle. Er war zu der Einsicht gekommen, dass er damit recht hatte. Er war auf eine spezielle Art krank, gestand er sich ein. Der Urlaub hatte die letzten Zweifel ausgeräumt. ›Lerne, dich zu akzeptieren, wie du bist‹, sprach er sich Mut zu. ›Das ist gesünder und billiger, unterm Strich auch kräfteschonender‹, hatte seine Frau hinzugefügt. Nur langsam trugen die neuen Erkenntnisse Früchte.
     
    *
     
    Seine Vorliebe hatte ihn in den Rheingau geführt. Er gehörte schon lange zu seinen Lieblingsplätzen. Sein Autohaus hatte ihm die Erfüllung seiner Wünsche fast aufgedrängt. Während einer Routineinspektion hatten sie ihm einen Vorführwagen als Ersatz überlassen. Die Zeiten standen für Autoverkäufer gerade schlecht, was ihre Großzügigkeit mächtig stimulierte. Sie hatten ihm angeboten, das Luxusfahrzeug über ein paar Tage zu behalten und sich auf einem längeren Trip von dessen Vorzügen zu überzeugen. Jung hatte nicht lange überredet werden müssen. Das Auto war der Inbegriff deutscher Automobilbaukunst.
    Bevor er sein Quartier bezog, war er nach rund 700 Kilometern Autobahn so entspannt aus dem Auto gestiegen, wie er zu Hause eingestiegen war. Leider hatte er sein Handy immer am Mann zu führen. Dienstanweisungen galten auch im Urlaub. Das war ein bitterer Wermutstropfen. Erst vorhin war eine SMS von der Inspektion eingegangen. Er hatte sie ignoriert. Wenn es etwas Wichtiges gewesen wäre, hätte man ihn zu sprechen verlangt.
    Dieses Jahr hatte es sich ergeben, dass zwei seiner Wünsche in Erfüllung gegangen waren: eine Konsumentenschulung auf einem Spitzenweingut und ein Besuch des Rheingau Musik Festivals. Die Geigerin Baiba Skride gab ein Gastkonzert.
    Er wollte eine dieser jungen Wundergeigerinnen schon immer mal live erleben. Die Kulturseiten und Feuilletons waren voll von ihnen, von der coolen Janine Jansen mit der Stradivari Barrere von 1727, der
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