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Mord im Nord

Mord im Nord

Titel: Mord im Nord
Autoren: A Giger
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Raureif, der sich daraus gebildet hatte, und verzauberte die braunen Blätter, die erst kurz zuvor aus den Baumkronen zu Boden gesegelt waren, in mit Eiskristallen verzuckerte Kunstwerke.
    Von der Hügelkuppe aus führt ein Waldpfad leicht abwärts zu einer Lichtung, auf der ein öffentlich zugängliches Blockhaus steht: die Raststätte im Hau. Meine Routenwahl war nicht zuletzt darin begründet, dass ich mir das Ding mal wieder anschauen wollte, hatte ich doch erst kürzlich gelesen, das Blockhaus sei vor genau einhundert Jahren gebaut worden. Beide Zeitungen des Appenzellerlandes hatten über dieses Jubiläum in Wort und Bild berichtet.
    Schon beim Aufstieg war mir dazu zweierlei durch den Kopf gegangen. Zum einen sinnierte ich darüber, dass es das Appenzellerland mit seinen beiden Halbkantonen Innerrhoden und Ausserrhoden trotz seiner insgesamt winzigen Grösse bis heute nicht geschafft hatte, mit einer einzigen Zeitung auszukommen. Nein, für die knapp zwanzigtausend Bewohner von Appenzell Innerrhoden ist nach wie vor der «Appenzeller Volksfreund» zuständig, für die rund fünfzigtausend Ausserrhödlerinnen und Ausserrhödler die «Appenzeller Zeitung». Für einen wenngleich vor geraumer Zeit Eingewanderten wie mich wirkte dieser Halbkantönligeist nach wie vor leicht skurril, um nicht befremdlich sagen zu müssen.
    Wie ich aus Gesprächen mit Hans wusste, ging es ihm ganz ähnlich, und wir hatten die eine und andere Stunde damit verbracht, die amüsanten Seiten dieser halbgeschwisterlichen Rivalitäten herauszukitzeln, um darüber lachen oder doch wenigstens schmunzeln zu können. Denn diese skurrilen Seiten gibt es natürlich auch, wie schon die Namensgebung der beiden Zeitungen zeigt: Hier der katholisch-barocke «Volksfreund», da die nüchtern-protestantische «Zeitung».
    Meine zweite Überlegung ging dahin, dass es sich beim Appenzellerland eindeutig um eine Gegend handeln musste, die man je nach Temperament und Vorlieben als «ruhig-friedlich» oder aber als «stinklangweilig» bezeichnen konnte. Tatsache jedenfalls war, dass in dieser Gegend so wenig los war, dass es sich beide Zeitungen leisten konnten, ausführlich über das hundertste Jubiläum einer Blockhütte irgendwo in einem abgelegenen Wald zu berichten.
    In meinen Empfindungen überwog das Ruhig-Friedliche, da hatte ich ja noch keine Ahnung, was mich kurz darauf erwartete. Der Platz war idyllisch, die Blockhütte zeugte von grundsolider Handwerksarbeit. Der Stifter, ein gewisser S. Schläpfer-Schläpfer vom Grunholz, hatte es sich nicht nehmen lassen, in der Hütte diverse Holztafeln mit besinnlichen Sprüchen anbringen zu lassen, wie etwa diesen: «Von Waldesfrieden leis umwebt / bist hier vom Gottesgeist umschwebt. / Du schaust schmucke Dörfer nur / die Hügelreih’n, die grüne Flur.»
    Dummerweise waren in der Zwischenzeit die Bäume rund um die Hütte so hoch gewachsen, dass sie die Aussicht weitgehend versperrten. Ich grämte mich darob nicht, sondern machte noch ein paar Fotos von der Hütte und den Inschriften und ging weiter talwärts.
    Der Weg öffnete sich wieder, und ich konnte, immer noch im prächtigen Sonnenschein, hinüber zu meinem Hügel sehen. Inzwischen war auch der Kirchturm vom schmucken Dorf Wald im Nebel versunken, und ich kam nicht umhin, in die trübe Suppe einzutauchen. Zum Glück kannte ich all diese Wege gut, sodass ich trotz der jetzt kurzen Sichtdistanz keine Orientierungsprobleme hatte. Darüber war ich froh, hatte ich doch genug zu tun, auf den Weg direkt vor mir zu achten, um nicht auf einer der hier klatschnassen Baumwurzeln auszurutschen.
    Vorbei am letzten Hof des Weilers Hofguet führte der holprige Pfad durch ein kurzes Waldstück Richtung «Nord», was nicht etwa die Himmelsrichtung bedeutete, sondern einen Flurnamen. Ein kurzer, steiler Abstieg noch über ein rutschiges Steinsträsschen. Ich war fast da, und das Häuschen, in dem Hans lebte, tauchte aus den Nebelschwaden auf.
    Dieses Häuschen war, wie ich von ihm erfahren hatte, vor Jahrzehnten, als es noch keine Zonenpläne und Bauordnungen gab, als Ferienhaus gebaut und von den Besitzern immer liebevoll gepflegt und ausgebaut worden. Es war im klassischen Appenzeller Stil errichtet, erstreckte sich über drei Stockwerke und besass eine Vorderfront aus Holzschindeln. Als die Besitzer alt wurden und den Weg aus dem (aus Appenzeller Sicht) fernen Zürich nicht mehr schafften, suchten sie nach einer Lösung. Niemand aus der Familie wollte das
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