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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal
Autoren: Colin Dexter
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etwas
entgegnen, als der Medizinalassistent fortfuhr: «Sie sind gerade erst
eingeliefert worden, glaube ich? Wenn Sie uns, Mr., äh, Morse, nicht wahr...
wenn Sie uns zwei Tage Zeit lassen, dann werden wir versuchen, Ihnen morgen
Genaueres zu sagen, O. K.?»
    «Ich fühle mich aber eigentlich
ganz in Ordnung. Wirklich», sagte Morse mit leiser Stimme und einigermaßen
eingeschüchtert, während er sich in die Kissen zurücksinken ließ und versuchte,
seine verkrampften Schultermuskeln zu entspannen.
    «Der Eindruck täuscht, fürchte
ich. Bestenfalls haben Sie nur ein Magengeschwür, das spontan zu bluten
angefangen hat» — Morse spürte einen Stich von Panik im Zwerchfell — , «aber es
kann auch sein, daß es sich um ein durchgebrochenes Magengeschwür handelt, und
wenn das der Fall sein sollte...»
    «Dann...?» fragte Morse mit
schwacher Stimme. Aber der junge Arzt schwieg und begann statt dessen Morses
Bauch abzutasten.
    «Nun, haben Sie etwas
gefunden?» fragte Morse und bemühte sich um einen möglichst munteren Ton.
    «Sie sollten versuchen, ein
paar Kilo abzunehmen. Ihre Leber ist vergrößert.»
    «Ich dachte, Sie hätten gesagt,
es sei der Magen.»
    «Ja, ist es auch. Sie haben Magenblutungen
gehabt.»
    «Und was... was hat dann meine
Leber damit zu tun?»
    «Trinken Sie viel, Mr. Morse?»
    «Nun, die meisten Leute trinken
doch so ihre zwei, drei Gläser pro Tag.»
    «Ich habe gefragt, ob Sie viel trinken.» Der Ton war ein wenig schärfer geworden.
    Morse versuchte, trotz der in
ihm auf steigenden Angst gleichmütig zu wirken, und so zuckte er mit den
Achseln: «Ich trinke gern mal ein Bier, ja.»
    «Wie viele Biere sind denn das
so pro Woche?»
    «Pro Woche?» fragte Morse
erschrocken, und sein Gesicht verzog sich in nachdenkliche Falten wie bei einem
Kind, dem man eine komplizierte Multiplikationsaufgabe zu lösen gegeben hat.
    «Na, dann eben pro Tag», schlug
der Medizinalassistent entgegenkommend vor.
    Morse dividierte durch drei.
«So zwei, drei, denke ich.»
    «Trinken Sie auch schärfere
Sachen?»
    «Gelegentlich.»
    «Und was?»
    Morse bewegte unruhig seine
angespannten Schultermuskeln. «Whisky — ab und zu trinke ich einen kleinen
Whisky.»
    «Wie lange hält denn eine
Whiskyflasche in der Regel bei Ihnen?»
    «Das kommt darauf an, wie groß
die Flasche ist.»
    Doch diese Art von Humor kam
offenbar nicht gut an, und so multiplizierte er schnell mal drei. «Eine
Woche... zehn Tage... so ungefähr.»
    «Und wie viele Zigaretten
rauchen Sie pro Tag?»
    «So acht... bis zehn», sagte
Morse, die richtige Zahl gleich umstandslos durch vier teilend.
    «Gibt es irgendeine Art von
körperlicher Betätigung, die Sie regelmäßig ausüben — Wandern, Joggen,
Radfahren, Squash...?»
    Doch bevor Morse mit seinen
Überlegungen, welches wohl die günstigste Antwort sei, zu Ende gekommen war,
mußte er schon wieder nach der Nierenschale greifen. Während er sich
geräuschvoll erbrach, registrierte der Medizinalassistent besorgt die
rötlichbraune Farbe des Erbrochenen, das mit hellroten Spritzern von frischem
Blut durchsetzt war, Blut, das durch eine tägliche Dosis Nikotin seines
Sauerstoffs beraubt und überdies noch reichlich mit Alkohol versetzt wurde.
    Kurz darauf verfiel Morse in
eine Art Dämmerzustand. Irgendwann, daran konnte er sich erinnern, hatte sich
eine Schwester über ihn gebeugt (dieselbe junge Schwester, die sich auch vorher
schon um ihn gekümmert hatte), um ihm den Puls zu fühlen. Ihr Stirnrunzeln
hatte Morse verraten, daß sie über das Ergebnis ihrer Messung beunruhigt war.
    Und plötzlich hatte er gewußt,
daß der Engel des Todes ihn gestreift hatte, und ein Schauer war ihm über den
Rücken gelaufen, als er zum erstenmal ernsthaft darüber nachgedacht hatte, wie
es wohl sein würde, zu sterben. Einen Augenblick lang hatte er sogar gemeint,
seinen Nachruf vor sich zu sehen — einen lobenden Nachruf natürlich.

Kapitel
2
     
    Weißt
du, warum wir den Toten mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen? Wir sind ihnen
gegenüber zu nichts verpflichtet, wir können uns Zeit lassen. Wir können ihnen
unsere Ehrerbietung erweisen zwischen einer Cocktailparty und einer zärtlichen
Geliebten - in unserer freien Zeit.
     
    Albert
Camus, Der Fall
     
     
    Als Morse am nächsten Morgen
erwachte, begann es draußen gerade zu dämmern. Die Uhr im Krankensaal zeigte
zehn vor fünf, und durch einen Türbogen erspähte Morse die schlanke Gestalt
einer Schwester, die, in warmen Lichtschein gehüllt,
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